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Christliches Kunstblatt für Kirche, Schule u. Haus — 55.1913

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Nr. 12 (Dezember 1913)
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https://doi.org/10.11588/diglit.44561#0464
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Nr.l2
Christliches Runstblatt für Rirche, schule und Haus
433

zwingen? Das Ich ist wie weggeblasen, und es ist die zwitschernde Welt und die leuch-
tende Sonne. Wiewohl der Spatz schon sehr frech und sehr laut aus nächster Nähe uns
schimpfen muß, ehe wir sein Stimmchen bemerken.
Es hat nicht jedes Rind einen Oranienburger park zur Verfügung. Wer ein Gärt-
chen hat und ein wenig Platz darin und kleine Kinder, der säe ihnen einen Nasen darein
und Blumen mitten dazwischen, Gänseblümchen und Veilchen, Krokos und Löwenzahn,
Sauerampfer (den sie aber nicht essen müssen) und roten Mohn, Glockenblümchen und
Gundermann. Ihr glaubt doch, daß das geht? Und laßt sie Blumen pflücken, und laßt
sie auf dem Nasen sich wälzen. Die Grasflecke auf Pose und Nöcklein sind feinste Kinder-
patina. Über wenn sie euch dann ihre Sträußchen schenken, so müssen sie auch sagen,
was es ist, was sie nach Pause bringen. Später gibt das ein Perbarium. Ihr könnt
ihnen doch selber die Namen sagen, nach denen sie bald fragen werden? Es braucht
nur für den Nnfang zu sein. Sind sie erst über zehn Iahre gekommen, so lernt ihr mit
ihnen zusammen oder lernt gar von ihnen; und ihr sollt sehen, es gibt keinen gütigeren
und keinen lustigeren und keinen geduldigeren Schulmeister. So solltet ihr auch sein.
Noch ergiebiger, ja unerschöpflich sind Tiere. Es ist ja das Wundervolle an diesen
Kindergespielen, daß sie völlig entwickelten Menschenverstand haben, wenn sie mit Kindern
umgehen' nicht wie die Elberfelder Pferde, sondern gesunden Menschenverstand. War
doch meinem Schwesterchen mal an schönem Iuliabend, als sie auf mütterlichem Schoß
unter dem Npfelbaum ihre Suppe essen mußte, ein winzig kleines Äpfelchen oben aus
dem Zweig gerade in die Suppe gesprungen. Tin unerschöpflicher Gesprächsstoff. Nnd
dann war sie, während wir die Nbendwäsche verrichteten, noch schnell mal in die Küche
entwischt und kam hochbefriedigt zurück: „Ich habe es Spitz erzählt, und was hat er
gelacht!"
Raffael in der Rinderstube.
Wollt ihr euren Kindern einen Bilderschmuck an die Wand hängen? Tasparische
Kinderfriese sind ja köstlich. Nber mir scheint trotzdem, zum täglichen Beschauen, unüber-
sehbar, von der Wand her, wird dem Kind etwas Sinnreiches, Bedeutendes, Gebietendes
am natürlichsten und liebsten sein. Etwas, woran man begreift, weshalb es immer und
immer wieder sagt: Seht, hier bin ich, seht mich an. Ls ist nicht richtig, daß dem Kind
das Kind da das Wichtigste ist. Die Ehrfurcht vor dem, was über uns ist, ist die erste!
selbst die Ehrfurcht vor dem, was unter uns ist, liegt noch näher als die Ehrfurcht vor
dem, was neben uns ist. Wir hatten als Kinder einen Thorwaldsenschen Ehristus in
unserer Stube und eine Naffaelsche Madonna an der Wand. Und wenn ich an die Ge-
fühle zurückdenke, mit denen ich zuweilen — noch sehr klein — davor gestanden habe,
so will mir scheinen, das wäre das Nechte. Keine, entzückte, klare, zutraulich verehrende
Gefühle. Unsere Pausgenossen, und so freundlich, so schön. Ich kann mir nicht helfen,
und wenn ihr mich zehnmal steinigt als altbacken, philisterhaft, unpspchologisch, — ich habe
da ein hartes Fell und habe viel in der Psychologie gewühlt und in Kinderseelen ge-
lesen, und ich bleibe dabei: solcher Schmuck der Kinderstube — aber auch der Familien-
stube —, um ehrwürdig zu bleiben, ist unersetzlich. Nicht für die religiöse Erziehung,
sondern für die Öffnung der Kindesseele zum Fühlen der Kunst und ihrer das Diesseits
himmlisch ausweitenden Freuden.
Vereinigung von Zprnbol und Wahrheit.
Woran liegt es nur, daß doch so viele Gott nicht finden, und daß jedes neue Ge-
schlecht in Gefahr ist, gottlos und haltlos durch das Leben zu gehen?
Mir scheint, es liegt daran, daß die Symbole für die Wirklichkeit genommen werden.
Daß jedes neue Geschlecht seine neue Sprache bekommt und seine neue Nrt, die Welt zu
 
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