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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 11.1919

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Heft 7
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Wolf, Paul: Die Kleinwohnung - eine Forderung künftiger deutscher Baukultur
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https://doi.org/10.11588/diglit.21394#0196
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Die Kleinwohnung —
fcßer Baukultur

eine Forderung künftiger deut-
Von Stadtbaurat PAUL WOLF in Hannover
Mit 7 Abbildungen

Die Baukunft kennt nur einen Fjen-n, nämlich das Bedürfnis
(Gottfried Semper.)
Die ältefte uns bekannte, planmäßig angelegte Stadt ift eine Kleinwoßnungsfiede-
lung: die zu Änfang diefes Jahrhunderts ausgegrabene ägyptifcße Stadt Kaßun,
die ungefähr 3000 v. Cßr. zur Unterbringung der beim Bau der Pyramide von
Illaßun befcßäftigten Arbeiter angelegt wurde. Sie ift eine regelmäßige Stadtanlage,
aus einer Reiße von großen Käufern und einer Anzahl kleinerer befteßend, die vier
bis fünf Zimmer enthalten. Den ßöcßftgelegenen Punkt der Anlage bekrönt ein
öffentliches Gebäude, das für den religiöfen Kult und die Verwaltung beftimmt war.
Die Straßen zeigen eine Entwäfferungsrinne in der Mitte des Fahrdamms. Vergleicht
man mit diefer Anlage die zahlreichen (Boßnftätten, die zu Beginn der Induftrialifierung
Deutfcßlands zur Aufnahme der nach den Städten ftrömenden Arbeiter gefcßaffen
wurden, fo kann man fiel) des Eindrucks nicht erwehren, daß wir im Laufe von fünf
Jahrtaufenden in diefer Fjinficßt wenig gelernt hatten.
Das alte Rom, die (Beltftadt des Altertums, mit feinen ein bis zwei Millionen Men-
feßen zur Kaiferzeit, zeigte ähnliche Mißftände, wie wir fie in unferen heutigen Groß-
ftädten finden: Auf der einen Seite die vornehmen Paläfte der oberen Bevölkerungs-
klaffen und großer Glanz bei der Errichtung öffentlicher Monumentalbauten, auf der
anderen Seite die traurigften (Boßnungszuftände der mittleren und unteren Bevölkerungs-
feßießten, die in großen, vielftöckigen Mietskafernen, den insulae, untergebracht waren.
Die 3aßl der insulae ftieg in der Kaiferzeit auf über 46000, die der Patrizierßäufer
auf 1800. Die immer brennender werdende (Boßnungsfrage führte fcßließlid) zu
(Boßnungsrevolten., Aber trot} diefer Volksaufftände entfcßloß man fiel) im alten Rom
nießt zu einer planmäßigen Löfung der Kleinwoßnungsfrage, dagegen ftanden Fjäufer-
fpekulation und Bodenfpekulation in voller Blüte, und fie beßerrfeßten das (Boßnungs-
wefen der unteren und mittleren Klaffen vollftändig. Und dies zu einer 3eit glänzender
teeßnifeßer Fortfcßritte der (Bafferverforgung, des Straßenbaus und der Entwäfferung,
des gewaltigen (Flerkes der cloaca maxima.
Es wiederholt fiel) alles in der Gefcßicßte der Menfcßßeit. Die 3urtände im alten
Rom ßaben verblüffende Ähnlichkeit mit dem Kleinwoßnungsproblem unferer 3eit. In
jämmerlichen, von nüchternen Spekulanten gefeßaffenen Großftadtquartieren, in engen,
dumpfen und ungefunden Baublöcken und in (Ooßnungen, in die kaum ein Sonnenftraßl
dringt, mußten in Deutfcßland Millionen von Menfcßen, mußte ein neues Gefcßlecßt
ßeranwaeßfen. Der Kleinwoßnungsbau, der vor dem Kriege 85% der gefamten
(Boßnungsbautätigkeit in den Städten ausmaeßte und damit eigentlich der heutigen
Stadt ßätte den Stempel aufdrücken müffen, lag bis vor kurzem mit wenigen Aus-
nahmen in den fänden verftändnislofer Bauunternehmer, und unbekannt waren die
Gefet^e, nach denen fanitäres Grün diefen Maffenfiedelungen einverleibt werden muß.
Rund 600000 Menfcßen woßnten vor dem Kriege in Groß-Berlin in überfüllten (Boh-
nungen, d. ß. in (Bohnungen, bei denen meßr als vier Perfonen auf ein heizbares
3immer entfallen.
Diefe 3urtände im Kleinwoßnungswefen waren neben der überftürzten Entwicklung
der Induftriebauten in erfter Linie beftimmend für die cßaotifcßen 3uftände des bau-

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