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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 15.1923

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Heft 21
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Beenken, Hermann: Das Kruzifix in Forstenried
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https://doi.org/10.11588/diglit.39945#0967
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genommen1, Uläßrend in Forftenried die Schenkel mit einer Lücke zwifcßen ficß parallel
nebeneinanderlaufen und erft die Füße fid) einwärts überkreuzen, kann man in Freifing
von Stand- und Spielbein reden, indem die ganze Laft des Rumpfes auf dem vor-
deren Bein zu rußen fcßeint, ßinter das das andere freier, läffiger zurücktau cßt. Die
in Forftenried nur wie eine zufällige Abweichung von der Norm wirkende Afymmetrie
der Nagelung ift jefet von oben ßerab durcß den ganzen Unterkörper ßindurcß vor-
bereitet. Der Körper fpannt ficß, die Knie treten als Gelenke in Funktion, aucß der
in Forftenried nocß geradlinig nacß unten einwärts verjüngte Cßorax wölbt fid) in den
Umrißfläcßen. Alles ift von neuer Aktivität durchdrungen. Der Blick ßebt ficß, die Neigung
des Fjauptes ift nicßt meßr willenlos und in der Fjalsacßfe ausgericßtet, fondern ftärker
gegen die Bafis der Scßultern gelockert, zielfucßender. Breit wölbt ficß aucß die
Muskulatur der in dem älteren ttlerk ganz fcßmalen, ßageren Arme.
Aucß die Gewandung, der Lendenfcßurz, ift von neuen plaftifcßen Spannungen durcß-
fetjt, deckt nicßt meßr bloß den Körper, fondern ift fein Gegenfpiel geworden. Die
feitlicßen Fallfalten ßaften nicßt meßr eng an den ßüften, fondern fteßen frei in eigener
Fallricßtung ab, fo daß im Umriß breite, offene ÜUinkel entfteßen, in die fid) die
Scßenkel tiefer ßineinrunden. Aucß die einzelnen Falten find durcßwölbter, nicßt meßr
dünne Grate, fondern breite Stege, die ftellenweife wieder von Furcßen aufgefcßli^t
werden. Selbft die nocß wie im Vorbilde flacß geplätteten, nun aber nicßt meßr eckig
gebrochenen, fondern rund umlaufenden Scßlingungen um die Gürtung werden es,
wäßrend in Forftenried ßier nur fpitje Dreiecke flacß nebeneinander lagen.
Das Freifinger Ulerk fcßeint mir näcßftverwandt den jüngeren Bamberger Skulpturen,
befonders den Arbeiten des Meifters vom Fürftenportaltympanon. Bambergifcß ift
jene Neigung, die Falten rundlicß aufzufpalten, zu zerfcßlifeen, und die weicße lockere
Verfcßlingung kurz gewellter Lockenftränge im FJauptßaar. Aucß die weicßlicße Körper-
modellierung läßt Bekanntfcßaft mit franzöfifcßer Gotik erfcßließen. (Uir gewinnen
damit für die Datierung des Freifinger Ulerkes als Spielraum das vierte und fünfte
Jaßrzeßnt des 13. Jaßrßunderts, da man mit Noack2 aucß für die gotifcße Bamberger
Plaftik Entfteßung fcßon in den dreißiger Jaßren wird anneßmen müffen. Jedenfalls
ift es fpäter als die vergleichbaren fäcßfifcßen Kruzifixe der FJalberftädter Liebfrauen-
kircße und des Fjannoverfcßen Provinzialmufeums, dagegen vielleicht früßer als das
Criumpßkreuz der Landsßuter Crausnitjkapelle3.
So ßaben wir alfo ßier ein der Bamberger (Uerkftatt mindeftens feßr naßefteßendes
altes CUerk und zugleich eine nacßmittelalterlicße Kopie desfelben. Und diefe Möglich-
keit, Altes und Neues zu konfrontieren, wirft Ließt auf ein Problem, deffen Löfung
merkwürdigerweife nocß immer ftrittig zu fein fcßeint; die Frage der Ecßtßeit der
Bamberger Pabftgrabreliefs, ßinter denen zweifellos eben jener Meifter des Fürften-
portaltympanons fteßt, in deffen Näße wir das Freifinger Kruzifix rückten. Fjandelt es
ficß bei diefen Reliefs um nacßmittelalterlicße Kopien oder um Originale des 13. Jaßr-
ßunderts mit barock überarbeiteter Epidermis? Id) ßabe an anderer Stelle4 die Gründe
erörtert, die gegen die FJypotßefe, daß fie Kopien feien, fpreeßen, und glaube, daß
aucß die Gegenüberftellung des Freifinger und des Seligentaler Kruzifixes die Originalität
der Bamberger CUerke nur bekräftigen kann. Jeder beffere Meifter des 16., 17. oder
18. Jaßrßunderts würde etwa bei dem Bamberger Flußgott feine modernen anatomifeßen
Kenntniffe genau fo zur Scßau geftellt ßaben, wie es der Seligentaler Kopift tut. Die
Vermutung, daß gerade diefer Flußgott fogar eine barocke Neufcßöpfung fein könne5,
ßätte wirkließ nicßt ausgefproeßen werden dürfen.

1 Vgl. G. Deßio: Gefcßid)te der deutfeßen Kunft, Bd. I, S. 315.
2 Kunftcbronik 1922, Nr. 29/30.
3 Vgl. den Huffaß von J. Müller-Hbensberg im Jaßrb. f. Kunftw. 1923, S. 153.
4 Kunftcßronik 1922, Nr. 36, S. 602 f.
8 Staedel-Jaßrbucß, 1921, S. 117.

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