Studien und Forfdjungen
Von größerem Gewicht aber pnd die pfyd)o-
logifchen Ärgumente. Der Kopf der Melan-
cholie ift fo lebendig geßaltet, daß die Annahme,
Dürer habe nach einem Vorbild gefdjaffen, kaum
abzuweifen ift. Auch öCIölfflin fagt: „Dürer muß
einmal eine Situation gefehen haben, die ihn
nicht mehr losließ.“ Klar nun aber eine Frau
der entfdjeidende Anlaß zur Schöpfung des
Stiches, fo ift zunächß zu bezweifeln, daß es
ein geiftiges Bemühen fein foll, das die Frau in
Melancholie verfemt hat. Hb er vielleicht hat er ein-
mal eine junge Mutter im Chaos einer Kinder-
ßube fo filjen fehen. Damit wäre das Allge-
mein-Menfd)lidje der Stimmung gepchert. Jene
Stimmung nämlich, in der man pd) vom Crieb-
rade des Lebens plöfelid) abgelöft fühlt, wo
man wie im Nichts ptjt, alles um pd) liegen
läßt, wie’s eben liegt und man wohl fagt: „UIo-
zu das alles?“ aber im Unterbewußtfein ein:
„Gleich geht’s wieder weiter!“ mitklingt. (Der
Kranz auf dem Haupte der Frau!) Das ift die
Melancholie, die alleMenfchen heimfud)t, gleich-
viel, ob pe grammatifd) analyperen oder Bretter
hobeln.
Es mag gern zugegeben werden, daß das
geipige Bemühen die erfte Stimme hat, aber
die zweite Stimme hat das Handwerken; pe iß
mit der erften zugleid) erfunden und beide
klingen wohllautend zufammen.
Und fo ergibt pd) ein klarer Plan, der die
Gegenßände des Stiches aus fd)einbarer Klirr-
nis in organifche Ordnung bringt: Neben Rüß-
zeugen geißiger Arbeit wie Bud), 3irkel, Kugel,
Schmelztiegel ßnden wir fold)e der körperlichen
wie Hobel, Hammer, 3ange und Stichfäge; und
dem geometrifchen Block als Sinnbild der töiffen-
fd)aft hält der geßiffentlid) überfehene und doch
fo umfangreiche Mühßtein an der tüand als
Sinnbild praktifcher Betätigung die GUage. Die
beßügelte Frau verpnnbildlicht das geiftige Be-
mühen mit Buch und 3irkel; aber pe iß auch
Hausfrau mit Beutel und Schlüßel. 3wanglos
gehen die Dinge auf. Selbft der Hund! Im
Jahre vorher hatte Dürer feinen „Reuter“ ge-
ßochen, in dem die Parallelführung des Seelen-
ausdruckes bei Reiter und Roß augenfällig
iß. Sollte diefe Bindung der Menfchen- und
Cierfeele von ihm nach einem Jahre ßhon wie-
der aufgegeben worden fein? Nein, unter die
Grenze des Menßhlichen fenkt pd) der Crübpnn
zum Ciere hinab: zu den Füßen der Frau hockt
der Ulindhund, nichts achtend, ganz in pd)
hineingekrochen. (Aud) bei Hieronymus im Ge-
häus hat der Löwe nichts Raubtierhaftes und
der Fuchs fchläft — die Parallele iß da.)
Es iß möglich, daß diefer Deutungsverfuch
manchem etwas von der Liefe des Stiches
nimmt; er gewinnt aber zweifellos an Kleite,
denn er gehört in diefer Auffaffung nicht nur in
die Studierßube, fondern mit der gleichen Be-
rechtigung in die CUol)nung des Hundwerkers
oder das 3immer einer Frau.
Giehlows Verfud), die Melancholie hiero-
glyphifd) zu deuten, ift ein bezeichnendes Bei-
fpiel für die deutfche Neigung, im Güeitherge-
holten das ureigentlicbfte Geheimnis einer Lei-
ftung zu fuchen. Aud) Lippmanns Hinweis auf
die zeitgenöfpfchePhilofophie,welche diemenfd)-
lichen Kräfte in die virtutes morales, intellek-
tuales und theologiales einteilt, und feine Auf-
faffung, die drei Meifterßicbe Dürers, den Rit-
ter, Cod und Ceufel, die Äielancholie und Hiero-
nymus im Gehaus als Sinnbilder diefer Dreiteilung
hinzußellen, wird man fallen laßen müßen, fo
beßechend pe auf den erßen Blick auch Tein mag.
Der Ritter trägt doch das Gepräge des Furd)t-
lofen zu tief, daß es nicht zu überzeugen
vermag, ihn als Vertreter aller moralifchen
Kräfte hinzunehmen. Sodann würden ihn feine
Attribute fehr weit in das Nachbargebiet der
üheologie hineingreifen laßen. Hieronymus im
Gehaus iß alter Stoß. Inbezug auf die Melan-
cholie aber iß mit allem Nachdruck auf die 1
hinter der Infchrift auf dem Fledermausßügel
hinzuweifen. Sie deutet auf eine Folge und be-
rechtigt zu der Annahme, daß Dürer die vier
Cemperamente darßeilen wollte und traditions-
gemäß mit der Melancholie begonnen hat. (Im
Augsburger Kalender von 1480 iß die Melan-
cholie auch das zuerft dargeftellte Cemperament.)
Reiht man pe aber in die Lippmannfche Folge
ein (pe müßte dann wohl aud) II fein), fo iß
fd)led)t zu begreifen, warum es Dürer unter-
laßen hat, auf die beiden andern Stiche die II
und III zu fetten. <Uen diefe Äußerlichkeit nicht
anßd)t, wird pd) aber kaum der Catfache ver-
fchließen können, daß die virtutes intellektuales
den Stid) nicht ausfd)öpfen, fondern nur feine
reichlichere Hälfte, was id) nachgewiefen zu
haben glaube.
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Von größerem Gewicht aber pnd die pfyd)o-
logifchen Ärgumente. Der Kopf der Melan-
cholie ift fo lebendig geßaltet, daß die Annahme,
Dürer habe nach einem Vorbild gefdjaffen, kaum
abzuweifen ift. Auch öCIölfflin fagt: „Dürer muß
einmal eine Situation gefehen haben, die ihn
nicht mehr losließ.“ Klar nun aber eine Frau
der entfdjeidende Anlaß zur Schöpfung des
Stiches, fo ift zunächß zu bezweifeln, daß es
ein geiftiges Bemühen fein foll, das die Frau in
Melancholie verfemt hat. Hb er vielleicht hat er ein-
mal eine junge Mutter im Chaos einer Kinder-
ßube fo filjen fehen. Damit wäre das Allge-
mein-Menfd)lidje der Stimmung gepchert. Jene
Stimmung nämlich, in der man pd) vom Crieb-
rade des Lebens plöfelid) abgelöft fühlt, wo
man wie im Nichts ptjt, alles um pd) liegen
läßt, wie’s eben liegt und man wohl fagt: „UIo-
zu das alles?“ aber im Unterbewußtfein ein:
„Gleich geht’s wieder weiter!“ mitklingt. (Der
Kranz auf dem Haupte der Frau!) Das ift die
Melancholie, die alleMenfchen heimfud)t, gleich-
viel, ob pe grammatifd) analyperen oder Bretter
hobeln.
Es mag gern zugegeben werden, daß das
geipige Bemühen die erfte Stimme hat, aber
die zweite Stimme hat das Handwerken; pe iß
mit der erften zugleid) erfunden und beide
klingen wohllautend zufammen.
Und fo ergibt pd) ein klarer Plan, der die
Gegenßände des Stiches aus fd)einbarer Klirr-
nis in organifche Ordnung bringt: Neben Rüß-
zeugen geißiger Arbeit wie Bud), 3irkel, Kugel,
Schmelztiegel ßnden wir fold)e der körperlichen
wie Hobel, Hammer, 3ange und Stichfäge; und
dem geometrifchen Block als Sinnbild der töiffen-
fd)aft hält der geßiffentlid) überfehene und doch
fo umfangreiche Mühßtein an der tüand als
Sinnbild praktifcher Betätigung die GUage. Die
beßügelte Frau verpnnbildlicht das geiftige Be-
mühen mit Buch und 3irkel; aber pe iß auch
Hausfrau mit Beutel und Schlüßel. 3wanglos
gehen die Dinge auf. Selbft der Hund! Im
Jahre vorher hatte Dürer feinen „Reuter“ ge-
ßochen, in dem die Parallelführung des Seelen-
ausdruckes bei Reiter und Roß augenfällig
iß. Sollte diefe Bindung der Menfchen- und
Cierfeele von ihm nach einem Jahre ßhon wie-
der aufgegeben worden fein? Nein, unter die
Grenze des Menßhlichen fenkt pd) der Crübpnn
zum Ciere hinab: zu den Füßen der Frau hockt
der Ulindhund, nichts achtend, ganz in pd)
hineingekrochen. (Aud) bei Hieronymus im Ge-
häus hat der Löwe nichts Raubtierhaftes und
der Fuchs fchläft — die Parallele iß da.)
Es iß möglich, daß diefer Deutungsverfuch
manchem etwas von der Liefe des Stiches
nimmt; er gewinnt aber zweifellos an Kleite,
denn er gehört in diefer Auffaffung nicht nur in
die Studierßube, fondern mit der gleichen Be-
rechtigung in die CUol)nung des Hundwerkers
oder das 3immer einer Frau.
Giehlows Verfud), die Melancholie hiero-
glyphifd) zu deuten, ift ein bezeichnendes Bei-
fpiel für die deutfche Neigung, im Güeitherge-
holten das ureigentlicbfte Geheimnis einer Lei-
ftung zu fuchen. Aud) Lippmanns Hinweis auf
die zeitgenöfpfchePhilofophie,welche diemenfd)-
lichen Kräfte in die virtutes morales, intellek-
tuales und theologiales einteilt, und feine Auf-
faffung, die drei Meifterßicbe Dürers, den Rit-
ter, Cod und Ceufel, die Äielancholie und Hiero-
nymus im Gehaus als Sinnbilder diefer Dreiteilung
hinzußellen, wird man fallen laßen müßen, fo
beßechend pe auf den erßen Blick auch Tein mag.
Der Ritter trägt doch das Gepräge des Furd)t-
lofen zu tief, daß es nicht zu überzeugen
vermag, ihn als Vertreter aller moralifchen
Kräfte hinzunehmen. Sodann würden ihn feine
Attribute fehr weit in das Nachbargebiet der
üheologie hineingreifen laßen. Hieronymus im
Gehaus iß alter Stoß. Inbezug auf die Melan-
cholie aber iß mit allem Nachdruck auf die 1
hinter der Infchrift auf dem Fledermausßügel
hinzuweifen. Sie deutet auf eine Folge und be-
rechtigt zu der Annahme, daß Dürer die vier
Cemperamente darßeilen wollte und traditions-
gemäß mit der Melancholie begonnen hat. (Im
Augsburger Kalender von 1480 iß die Melan-
cholie auch das zuerft dargeftellte Cemperament.)
Reiht man pe aber in die Lippmannfche Folge
ein (pe müßte dann wohl aud) II fein), fo iß
fd)led)t zu begreifen, warum es Dürer unter-
laßen hat, auf die beiden andern Stiche die II
und III zu fetten. <Uen diefe Äußerlichkeit nicht
anßd)t, wird pd) aber kaum der Catfache ver-
fchließen können, daß die virtutes intellektuales
den Stid) nicht ausfd)öpfen, fondern nur feine
reichlichere Hälfte, was id) nachgewiefen zu
haben glaube.
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