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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 21.1929

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Heft 3
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Wertheimer, Otto: Ein oberrheinisches Mystikerkreuz um 1400
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https://doi.org/10.11588/diglit.41323#0103
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EIN OBERRHEINISCHES MYSTIKERKREUZ
UM 1400 VON OTTO WERTHEIMER
Oberrheinische Holzbildwerke aus der Zeit um 1400 sind fast alle der Zerstörung an-
heimgefallen. Aber die wenigen erhalten gebliebenen Werke — die Geburt des Kin-
des in Berlin, die sitzenden Marienstatuen in Straßburg (aus Eschau), Hüttenheim und
Neuweiler, der Johannes Ev. aus Molsheim im Stuttgarter Museum, die stehende Maria
in Kenzingen und einige Vesperbilder — lassen durch die Höhe ihrer künstlerischen
Qualitäten eine Blüte dieser Schule auch in dieser Epoche ahnen. Das mag die Ver-
öffentlichung eines einzelnen, in mehrfacher Hinsicht interessierenden Werkes recht-
fertigen 1.
Das Kruzifix im Dominikanerinnenkloster in Kolmar stammt nach vertrauenswerter
Aussage aus dem Unterlindenkloster, dem ehemaligen Sitz dieses Ordens. Es ist in der
Zeit entstanden, in der der Kolmarer Dominikanerniederlassung besondere Bedeutung
zugefallen war. Konrad de Grossis, der von 1589 bis zu seinem Tod 1426 als Abt des
ersten Ordens in Kolmar gewirkt hat, führte die alte, strenge Ordensregel wieder ein
und hatte starken Anteil am Aufblühen mystischer Strömungen am Oberrhein2} auch
auf die Gestaltung des zweiten Ordens, der, wie alle weiblichen Orden, diesen lyrischen
Strömungen besonders zugänglich war, hatte er starken Einfluß0.
Mit diesen neu belebten Strömungen möchte man das Kolmarer Kruzifix in Parallele
setzen} denn auch dieses Werk ist eine Wiederbelebung und Wiedererweckung eines
verflossenen Typus. Es steht am Oberrhein völlig isoliert und ist mit den um fast ein
Jahrhundert früheren Kruzifixen am Niederrhein in eine Reihe zu stellen, am ehesten
vergleichbar mit dem von St. Gereon in Köln. Dieser zerbrochene, in sich zusammen-
gesunkene, zum Gerippe abgemagerte Christus mit jenem verzerrten Ausdruck des
Erschöpftseins, der dem schmerzhaften Lachen so ähnelt, zwingt den Beschauer zu
kontemplativem Nacherleben aller Phasen des Martyriums. Der Nachdruck liegt auf
der überrealistischen Darstellung des Leidens} die Wunden sind aufgerissen, an den
Armen hängt das Blut wie ein dünnes Geäst. Alles Symbolhafte, wie die Zusammen-
fassung der Blutströme der Seitenwunde in die Form einer Traube, ist vermieden.
Der Beschauer soll vor diesem Leiden zerknirscht und in den Staub gezwungen
werden.
Auch die Haltung des Körpers entspricht der des frühen 14. Jahrhunderts. In der
Stellung der Beine, dem fast durchgedrückten linken und dem im Knie stark ab-
gewinkelten rechten, steckt noch die kontrapostische Abgewogenheit der klassischen
Zeit. Auch die flächige und räumliche Kontinuität der vertikalen Körperachse ist vor-
handen, während sonst im späteren 14. und frühen 15. Jahrhundert eine räumliche
Durchdringung des Körpers durch kräftiges Hochziehen beider Beine und ein stärkeres
Nachvornesinken des gesamten Oberkörpers durch ein Hochgreifen der Arme und
damit eine räumliche Zickzackbewegung des achsialen Systems erreicht ist4.
Aber trotz dieser Anlehnung im Morphologischen an Vorbilder des frühen 14. Jahr-
hunderts kann das Werk vor 1400 nicht entstanden sein. Ihm ist im Ausdrucks-
Nach der Niederschrift dieses Aufsatzes hat J. EVtterer im letzten Heft der oberrheinischen Kunst
einiges Material, das oben angeführt ist, besprochen; die dort vertretenen Anschauungen decken
sich nicht mit den hier ausgeführten.
Heimbucher, die Orden und Kongregationen der katholischen Kirche. 2. Aufl. Paderborn 1Q07.
II. Bd. S. 121.
Die Gründung des Dominikanerinnenklosters Schönensteinbach in Ohereisaß geht auf ihn zurück.
Vgl. das Kruzifix aus der Korpus-Christi-Kirche in Breslau (jetzt Diözesan-Mus.). Cicerone XIV.
ig22. S. 32.

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