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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 22.1930

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Heft 11
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Giedion, Sigfried: Architekt und Konstruktion: Bemerkungen zum Ausstellungslokal Citroën, Rue Marboeuf, Paris 1929
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https://doi.org/10.11588/diglit.27696#0342
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darin weiterverfolgt. Es umfaßt zehn Stockwerke, acht über der Erde, zwei unter-
irdisch. Bereits ragen die Eisenträger mannshoch über die f’lache Uachfläche, um jeder-
zeit drei oder vier weitere Stockwerke anfiigen zu können. Die fiinf umlaufenden
Galerien zur Aufnahme der Autos bestehen aus frei vorkragenden Terrassen, die in
der Mitte einen mächtigen freien Luftraum lassen, abgeschlossen von Decke und
Glaswand. ] o ooo qm beträgt der zur Verfügung stehende Aufstellraum, der iiber
einem Grundstück von nur 1216 qm geschaffen wird.

Schon der Bauvorgang zeichnete sich durch Kühnheit aus. Man wollte für den Herbst-
salon 1928 in wenigen Wochen bereits zwei Stockwerke zur Verfügung haben. Für
den Aushub des Fundaments (zwei Stockwerke tief) hätte die Zeit nicht gereicht.
Man grub Schächte für die Betonfundamente und goß sie aus. Darauf setzte man so-
fort das Eisenskelett. Im Juni 1929 fanden wir den Bau in vollem Betrieb. Im Sep-
tember war er vollendet. Bauzeit: acht Monate.

Der Zweck des Baus: ein Verkaufslokal für Automobile. Überblickt man die Stock-
werke, so darf man wohl sagen, daß es sich um die erste Lösung eines »Warenhauses«
für Automobile handelt. Um mit einem Augenaufsclilag — auch von außen — das
gewaltige Lager umfassen zu können, errichtete man jenen 19 m hohen Glasvorhang,
der den Blick von weitem auf sicli zieht. Vielleicht liätte man die Glasfläche, wie Cor-
busier das augenblicklich bei der Eassade der Fabrik Draeger (Paris) versucht, etwas
neigen müssen, um Spiegelungen durcli reflektiertes Licht zu vermeiden.

Man hat lange schon gläserne Häuser auf dem Papier entworfen. Es waren Häuser, bei
denen man an Stelle von Stein Glas setzte. Der Ingenieur ist weitergegangen. Er liat
niclit nur ungeheure Flächen aneinauder gereiht, er hat sie durch eine Rahmenkon-
struktion in der Höhe verankert. Aus 18 Glasfeldern von 10X5,1 m setztsich dieWand
zusammen. Sie wird versteift durch die beiden eisernen Rippen von prachtvoll knapper
Dimensionierung, aber getragen wird die ganze Wand rechts und links von zwei — heute
unter einer dicken Mauerschicht verschwundenen — Brückenträgern, die ihre Last
in der Höhe durch einen quergelagerten Träger übernehmen. i 9 Tonnen beträgt die
Last des Eisengerüstes dieser schwebenden Wand. Auf diesem eigentlichen konstruk-
tiven Kampffeld ist nicht der leiseste Platz für dekorative »Verschönerung«.

Glas ist uns fremd, Eisen ist uns fremd. Amorphe Gebilde. Unedles Material. Zweifel-
los tötet die Tndustrialisierung den individuellen Abdruck der Hand. Aber einer Straße
aus solclien Glaswänden würde eine kaum vorstellbare Phantastik entströmen.

Leider hat der Architekt-Dekorateur den Sinn des Baus entstellt. Rechts und links
werden zwei »monumentale« mittelalterliche Mauerkulissen hoehgeführt, die den Bau
zusammenpressen, so daß er fast das Aussehen eines ungeheuren Photographierahmens
annimmt. Der Arcliitekt hat sein Möglichstes getan, um zu vernichten, was derIngenieur
erreicht hatte. Neben die helle Kühnheit unserer Zeit setzt er das Fragment einer Burg
und die pathetische Inschrift Marboeuf scheint einem Kriegerdenkmal entnommen zu
sein. Am lehrreichsten aber ist das Mißverstehen des Architekten im Innern: die schlanke,
durchgehende Eisenskelettkonstruktion ummantelt er mit hohlem schwarzen Eisenblech,
das ungefähr die zehnfache Grundfläche des Trägers einnimmt. Man schämt sicli der
Leichtigkeit der Konstruktion und täuscht die Massivität einer romanischen Krypta vor.
Das ist kein Einzelfall. Die Gründe, warum die Wolkenkratzer in New York ihr Re-
naissancekleid tragen, die neuen Bauten auf den Pariser Boulevards sich eine unmög-
liche Fassade ankleben und das Völkerbundsgebäude in Genf eine lächerliche Kulisse
zu werden droht, sind die gleichen: das Haus soll aussehen, als läge seiner Herstellung
immer noch die handwerkliche Produktionsweise zugrunde. Ein Jahrhundert des Zögerns
mag auch auf dem Gebiet der Architektur genügen. Es dürfte der Augenblick ge-
kommen sein, endgültig auf das anderslautende Kommando unserer Zeit zu hören.
 
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