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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 22.1930

DOI issue:
Heft 23/24
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Marzell von Nemes †
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https://doi.org/10.11588/diglit.27696#0617
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MARZELL VON NEMES |

Marzell von Nemes verließ vor kurzem
die deutsche Wahlheimat, um seiner Va-
terstadt Budapest einen Besucli abzu-
statten. Bald wollte er zurückkehren. Die
ungarische Erde aber hat sich jetzt über
ihm geschlossen. In Ungarn wird sein
Name in Stiftungen und Schenkungen
am stärksten weiterleben. In der ungari-
schen Heimat war cr vej-wurzelt, aus ihr
heraus ist das Besondere seines Genies zu
verstehen. Scheuen wir diesesWort niclit;
das Weite und Große, das Zusammen-
fassende und Aufbauende in ihm über-
stieg normales Maß. Der Ansturm dieses
Lebens war mehr als der Aufstieg eines
vielfacli begabten Menschen, war ver-
schwenderisches Ausleben ungewöhn-
licher Kraftströme.

Er stellte sich von Jugend an nur große
Ziele. Wirtschaftliche Erschließung un-
gehobener Bodenschätze war sein frühes
Programm. Grenzen wurden sofort in
kühnen Bogen abgesteckt. Erwerb von

BildnisMarzell v.Nemes / Photo: AtelierPuld, München Ländeieien lockte um so mehr, wo ge-

ringere Weitsichtigkeit, wo Kleingläu-
bigkeit am Erfolg zweifelte. Da führte dann genialer Einfall und Einsatz stärkster
Arbeitskräfte zur Urbarmachung, da rang er, Widerständen zum Trotz, dem Boden
wirtschaftlichen Ertrag ab. Und während sich diese neuen Quellen der Wirtschaft dem
Lande öffnen — wendet sich das kiinstlerische Auge des Mannes gotischen Stoffen,
antiken Gläsern und zeitgenössischer französischer Malerei zu.

Die erreichte materielle Unabhängigkeit bringt für ihn die Umstellung, daß die drängen-
den Kräfte ganz in den Dienst des Kunstsammelns gestellt werden. Das Tempo, in
welchem seine Sammlungen erstehen, möchte von dem Durchschnittsmenschen als
schwindelerregend bezeichnet werden. Diese Besessenheit, nach Kunst zu greifen, ilir
durch den Besitz immer näher zu kommen, hatte ihr einziges Maß in Nemes’ unver-
gleichlichem Auge. Eine staunenerregende künstlerische Begabung leitet seine fieber-
haft aufbauende Tätigkeit, und es zeigt sich, daß durch das Tiefpersönhche seines
Wesens die um ihn sich häufenden Kunstwerke wiederum eine sehr bestimmte Be-
ziehung zu diesem schöpferischen Sammler erhalten. Gibt es auch im Laufe der Jahr-
zehnte kaum ein Gebiet der Kunst, welches er nicht berührte, so war es docli keines-
wegs Zufall, daß seine Leidenschaft sich vor allem an dem französischen Impressionis-
mus, an gotischen Samten und antiken Gläsern entzündete. Denn zutiefst war er
Maler und in der mattleuchtenden Iris syi'ischen Glases bezauberte ihn, was er in dem
rätselhaften Farbenspiel eines smaragdenen mittelalterlichen Stoffgewebes wieder-
fand —- und in der neu erstandenen Wunderwelt heller, ungebrochener und halb-
gebrocliener Farbtöne der modernen Franzosen erfüllte sicli vollkommen das eigene
Sehnen nach dem Ausdruck für das Leben in der Farbe. Dieser Wunsch nach Gestaltung
des Lebendigen durch Aufbau und Wechselwirkung von Farben drängte ihm selbst den
Pinsel in die Hand, und bald darauf schuf er sich ein eigenes Kolorit. Es entspricht der

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45 Der Cicerone, Jahrg. XXII, Heft 25/24
 
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