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Clément, Charles; Clauß, Carl [Bearb.]
Michelangelo, Leonardo, Raffael: mit 40 Holzschnitten und zwei lithographirten Tafeln — Leipzig: Verlag von E.A. Seemann, 1870

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https://doi.org/10.11588/diglit.71514#0192
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Leonardo da Binci.

graphische Reproduction wenigstens einiger dieser Studien wäre wohl
wünschenswerth. *)
Ich kann indessen nicht sagen, daß die Prüfung dieser Sammlung
meine Idee vom Genie des Leonardo vergrößert habe. Jede dieser Skizzen
mit der Feder, dem Blei- oder Silberstift von derselben gewaltigen Hand
gezeichnet, welche den Klöppel einer Glocke verbiegen konnte, scheint wie
mit dem Flügel eines Vogels gezogen. Klare Conception, tiefe Beobachtung,
feste und leichte Ausführung, Verständniß und Geschicklichkeit, das sind
die Eigenschaften, welche wir in diesen Zeichnungen finden und auf welche
wir in der Gesammtthätigkeit Leonardo's stoßen. Vergeblich aber würde
man darin die großartigen Schöpfungen der Phantasie suchen, welche sich
in einer ähnlichen Sammlung von der Hand der Meister der Schule von
Athen oder der Deckenmalereien der siptinischen Kapelle auf jeder Seite
finden würdeu.
Trotz der Unbeständigkeit, der Vasari mit Recht den Leonardo anklagt,
in der er sein Leben verzettelt und seine außerordentlichen Kräfte an tau-
senderlei Hirngespinsten, von welchen fast keine Spur zurückgebliebeu, ver-
geudet habe, bezeugen doch die nützlichen Werke, die er während seines
Mailänder Aufenthaltes, inmitten seiner Vergnügungen und seiner ernsten
Lehrbeschäftigungen vollendet, eine ganz außerordentliche Thätigkeit und
Regsamkeit des Geistes. Gegen 1490 wurden die Arbeiten an dem Mai-
länder Dom durch die den Bau leitenden italienischen und deutschen Archi-
tekten gehemmt. Die Italiener wollten den Renaissancesthl adoptiren, sie
wurden darin durch Lodovico Moro und die öffentliche Meinung unter-
stützt. Die deutschen Meister erklärten sich für die Gothik, für die Einheit
des Sthls, und behaupteten, daß das Monument nach den bisher befolg-
ten Principien zu vollenden fei. Die heftigen Streitigkeiten, welche in
Florenz, zur Zeit des Brunellesco, bei Errichtung der Kuppel von Santa
Maria del Fiore stattgefunden hatten, wiederholten sich bei dem Bauabschluß
des Mailänder Doms. Die Sitzungen der Architektenversammlung, welche
Lodovico zusammenberufen hatte, wurden immer stürmischer. Am 27. Juni
1490 waren vier Projecte vorgezeigt und verworfen worden, die Bevölke-
rung erwartete mit Langer Spannung das Resultat der Berathungen,
welche kein Ende nehmen wollten. Da wurde Leonardo den streitenden

*) Leroy hat einen der schönsten Männerköpfe dieser Sammlung facsimilirt. Den
Stich begleitet eine treffliche Notiz von Reiset.
 
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