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Cohn-Wiener, Ernst [Contr.]
Braunschweig, Hildesheim und der Harz: 110 Abbildungen nach Naturaufnahmen — Berlin: Verlag für Kunstwissenschaft, 1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.56736#0014
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kapelle und ein Saalbau, dessen heutige Gestalt auch nicht mehr die ursprüngliche ist. Nur die Kirchen
der Stadt, immerhin noch eine stattliche Zahl, geben den Charakter der Zeit ganz rein. Ihre bollwerk-
artige Turmfront ist ein charakteristisches Kennzeichen aller sächsischen Kirchen dieser Zeit, ein be-
deutungsvoller Formausdruck für die Energie des Stammes. Welch edler Organismus in Goslar zu
Grunde ging, läßt Quedlinburg ahnen, das heute der harmonischste Baukomplex des ganzen Gebietes
ist. Wie ein Teil des Felsens, auf dem sie stehen, erheben sich Schloß und Dom von Quedlinburg,
um den Fuß ihres Hügels lagern sich schuhsuchend, wie Küchlein unter den Flügeln der Henne, die
Häuser der Stadt. Bau und Grund bilden einen einzigen Block, umschließen wie die Eisenwände
einer Truhe die kostbaren Handschriften und gemmengeschmückten Elfenbeinkasten des Schatzes im
Turm. Unersteigbar erscheint die Burg, auf deren gewaltigen Mauern zierliche Renaissancegiebel wie
kleine Schwalbennester sißen, und zu monumentaler Einheit schließen sich die starken Formen des
Domes, seine schweren Außenmauern und die mächtigen Säulen des Innenraums mit ihr zusammen.
Das charakterisiert die innerliche Klarheit dieses ganzen Zeitalters.
Die edelsten Kirchen birgt die alte Bischofsstadt Hildesheim, St. Michael und St. Godehard.
Das überrascht um so mehr, als diese Stadt ihre Macht einem Manne verdankt, der ein moderner
Mystiker im Gewände eines mittelalterlichen Bischofs war. Wir wissen von Erzbischof Bernward
(993—1022), daß er an philosophischen Gesprächen seine Freude hatte und ein Geschlecht von
Künstlern großzog, eine Inschrift auf den silbernen Leuchtern, die er gießen ließ, erinnert an alchi-
mistische Studien, wie der Kampf zwischen Hölle und Licht, der auf ihnen dargestellt ist, an seltsame
Visionen der Seele denken lassen. Er hatte seine künstlerische Freude am Glanz der Perlen und
Edelsteine und ließ kostbare Geräte von fernher kommen, um sie in Hildesheim nachzubilden. Ja,
die große Bronzesäule, die noch heute im Hildesheimer Dom steht, hat Formen antiker Kunst ins
Mittelalter überliefert, ist römischen Triumphalsäulen, die Bernward auf seinen Romreisen kennen
lernte, nachgeahmt. Die Geschichte des Sündenfalls und der Passion Christi, wie sie auf der großen
ursprünglich für St. Michael bestimmten Bronzetür geschildert wird, ist die beste künstlerische Er-
zählung des ganzen deutschen Mittelalters, und der Guß der mächtigen Flügel seßt für jene Zeit un-
erhörte technische Experimente voraus. Nichtsdestoweniger fehlt den Hildesheimer Kirchen alle die
himmelstrebende mystische Sehnsucht, die gothische Kathedralen, wie das Straßburger Münster, später
zum klassischen Ausdruck brachten. Die Kirchen des 11. und 12. Jahrhunderts in Hildesheim wollen
Häuser sein, in denen sich die Gemeinde zum Gebet versammelt, wollen als einzigen Ausdrude den
festen Gottvertrauens tragen. Klarheit der Form ist der einzige Schönheitsbegriff, unter dem diese
Kirchen angelegt sind, und man wird sagen müssen, daß hier die Architektur, die ja Zweckkunst ist,
Werke von erstaunlicher innerer Konsequenz geschaffen hat. Mit der Energie des Selbstverständlichen
scheiden sich in der Außenfront die Teile der Kirche, die Schiffe, Langhaus und Querhaus von ein-
ander, sind die Türme zu festen Begrenzungen der Bauteile ausgebildet. Diese Sicherheit durchdringt
den ganzen Bau. Die Mauer ist feste Wand. Ihre karge Dekoration, ebenfalls aus dem Zweck ge-
folgert, sind ein schmaler Sockel, der die Festigkeit des Stehens, ein kleiner Rundbogenfries, der die
Ruhe des oberen Abschlusses betont, beide verbunden durch knappe Mauerverstärkungen. Noch
ernster und gehaltener wirkt das Innere dieser Kirchen. Man wird ehrlich sagen können, daß seit alt-
griechischer Zeit keine Säulen von der fragenden Energie der romanischen Säulen gefunden worden
sind, so stark steht die Basis auf dem Boden, so ruhend trägt der Schaft, so klar nimmt das Kapital
die Last auf. Auch wenn es, wie in St. Michael, von reichstem Laub umkleidet ist, verliert es seine
Festigkeit nicht. Die Reihe dieser Säulen und Pfeiler schreitet wie eine feierliche Prozession zur Altar-

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