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Cohn-Wiener, Ernst
Die jüdische Kunst: ihre Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart — Berlin: Wasservogel, 1929

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https://doi.org/10.11588/diglit.53034#0221
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tasien des Entsetzens über eine verzweifelte Wirklichkeit. In der ganzen
Kunstgeschichte gibt es nichts, was so sehr als Befreiung einer gequälten
Seele gemalt worden wäre, wie dieses Buch. Selbst wenn einmal fröh-
liche Bilder oder heitere Verse dastehen, wird man das Gefühl nicht
los, sie wären nur plötzliche Ausbrüche glückloser Menschen.
Es ist schließlich soweit gekommen, daß der Jude des Ostens an Purim
oder bei Hochzeiten tanzte und spielte, nicht weil er froh war, sondern
weil das Gesetz es erlaubte, und diese Erlaubnis wie em Befehl war. Eine
äußere Folge in der Kunst: das einzige Buch, das mit Malereien ge-
schmückt wurde, bleibt jetzt die Estherrolle, die Megillah, und es kommt
soweit, daß die Maler die Bilder der Kupferstichausgaben kopieren.
Es gibt also einen Gefühlsgegensatz zwischen sephardischer und askena-
sischer Kultur und Kunst. Nicht festzustellen ist, ob seine Grundlage
die Verschiedenheit zweier Rassen oder zweier geschichtlicher Schick-
sale ist. Wir wissen zu wenig, wie die Verschiedenheit dieser beiden
jüdischen Gruppen überhaupt entstanden ist, ob sie physiologisch oder
psychologisch ist. Ich glaube unbedingt an das letztere. Gerade der
Überblick über die jüdische Kunstgeschichte hat schon bisher gezeigt,
daß Kulturgememschaft mit der Umgebung oder Kulturtrennung von ihr
grundsätzlich wichtig waren. Die Differenz der Rassen ist nicht zu
leugnen. Aber die Stellung in der Kultur entschied darüber, ob die
jüdische Kunst selbständig oder unselbständig, verfeinert oder bäurisch
war. Und wie die Kunst, ist natürlich die Gemeinde, die sie schuf, inner-
lich frei oder unfrei gewesen. Der Unterschied, der im Mittelalter
zwischen der Stellung der Juden im Islam und in Spanien oder in
Deutschland bestand, war so enorm, daß er schon zur Herausbildung
eines kulturellen und künstlerischen Gegensatzes genügen konnte.
Die sephardischen Gemeinden waren es denn auch, die ihre alte Haltung
und Kultur weiterhin bewahrten. Sie bildeten seit der Vertreibung
auch im Norden große Gemeinden, vor allem in Holland und London,
die im 17. Jahrhundert wohl die glänzendsten der ganzen Judenheit
waren. Sie konnten sich in freien Ländern ganz sicher fühlen. Aber der

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