Curtius, Ernst: Ephesos: ein Vortrag, gehalten im wissenschaftlichen Verein zu Berlin am 7. Februar 1874 (Berlin, 1874)

Tjs giebt wohl keinen Landstrich, wo sich auf engem
Räume so viel Geschichte zusammengedrängt und so viel
menschliche Cultur entfaltet hat, wie die Westküste Klein -
asiens, welche wir mit dem alten Namen Ionien bezeichnen.
Es ist ein Theil des jenseitigen Continents und nichts als
das schmale Mündungsland der vier Flüsse, welche in pa-
rallelem Laufe aus dem Binnenlande hervorströmen, aber
durch seine Naturbeschaffenheit unserem AVelttheile verwandt
und mit den Mittelmeerlandschaften in unzertrennlichem Zu-
sammenhange. Der geographischen Doppelstellung entspricht
die Bewegung der Völkergeschichte. Von der einen Seite
sind die Mächte des Orients vorgedrungen, um ihr natür-
liches Anrecht auf den Rand ihres Festlands und die Mündungen
ihrer Flüsse geltend zu machen; von der andern Seite kamen
die Seevölker, die Phönizier und Hellenen, um das hafen-
reiche Land mit ihrer Ufer- und Inselwelt zu vereinigen.
Die hellenischen Ansiedelungen haben aber ein solches Ueber-
gewicht erlangt, dafs der binnenländische Zusammenhang
ganz zurücktrat und der asiatische Boden der Mutterschofs
europäischer Bildung wurde, derselben Bildung, an deren
Erhaltung und Fortentwickelung wir noch heute arbeiten.
Auf einem schmalen Landsaume von 14 Meilen Länge er-
wachsen zwölf blühende Städte; jede derselben hat ihre

eigne Geschichte, und die Gaben, welche die Natur mit

l*