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Scholz, Hartmut
Die mittelalterlichen Glasmalereien in Mittelfranken und Nürnberg (extra muros): Anhänge, Tafeln — Corpus vitrearum medii aevi - Deutschland, Band 10,1, Teil 2: Berlin: Deutscher Verlag für Kunstwissenschaft, 2002

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https://doi.org/10.11588/diglit.52870#0018
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EHEMALS NÜRNBERG ■ KARMELITERKLOSTER

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begann im Ostflügel des Kreuzgangs in der Seiten gen dem Auf gang der Sunnen, gegenüber der Sakristei, dort wo man
aus dem Chor rechter Hand in den Kreuzgang hinausging. Aus den Aufzeichnungen Schreyers geht außerdem hervor,
daß jeweils zwei Szenen ein zweibahniges Fenster schmückten: Die Szenen saßen nebeneinander in der zweiten Zeile
und zogen sich als sog. partielle Farbverglasung wie ein farbiges Band auf einer Höhe durch alle Fenster des Kreuz-
gangs und - unabdingbar durch die Zahl der erhaltenen und überlieferten Einzelfelder - auch durch die Fenster der am
Kreuzgang angebauten Ottilienkapelle. Die Fensterflächen darüber und darunter waren inklusive des Bogens aus-
schließlich mit farblosen Butzen verglast (vgl. Reg. Nr. 8 if.). Trägt man alle Indizien zusammen, dann ergibt sich etwa
der folgende Ablauf der Legende aus erhaltenen und verschollenen {kursiv gesetzt) sowie mutmaßlich verlorenen
Szenen (die aktuellen bzw. überlieferten Standorte sind in Klammern vermerkt: G = Großgründlach, H = Henfenfeld,
W = Wöhrd, NL = Nürnberg, St. Lorenz). Für die vorhandenen Lücken wird man Szenen berücksichtigen müssen, die
entweder unverzichtbar sind - wie z.B. die Verkündigung an Maria - oder solche, die in vergleichbar umfangreichen
Bildzyklen häufiger, wenn nicht durchgängig angetroffen werden.
Die Geschichte begann im Ostflügel, unmittelbar am Ausgang des Chores, zwangsläufig von rechts nach links fort-
schreitend, mit den Begebenheiten um die Eltern der Jungfrau Maria, Anna und Joachim: Erhalten hat sich der
Abschied Joachims von Anna (G) als zweite Szene des Zyklus; den Auftakt bildete ehemals die Zurückweisung von
Joachims Opfer24. Die vier folgenden Szenen - Verkündigung an Joachim, Goldene Pforte, Mariengeburt und Tempel-
gang - sind verloren, aber, wie erwähnt, als Stiftungen Sebald Schreyers von 1504 bzw. 1508 schriftlich überliefert. Es
folgten im vierten Fenster die Szenen Maria am Webstuhl (G) und die Vermählung mit Joseph (G) als erste Schürstab-
Stiftung um 1504/5. Im fünften Fenster sind mit größter Wahrscheinlichkeit die Verkündigung an Maria und die Heim-
suchung zu rekonstruieren - Szenen, die im Kontext eines so umfangreichen Zyklus nicht fehlen durften, zumal im
Anniversarium der Frauenbrüder die betreffenden Feste Mariae Heimsuchung und Mariae Verkündigung als Titularfe-
ste der Kirche und der Ottilienkapelle überliefert werden25. Neben der Geburt Christi (W) im sechsten Fenster rechts
dürfte einst die Beschneidung zu sehen gewesen sein. Im siebten Fenster saßen - als Gegenstücke sicher belegt durch
identische Laubwerkrahmen - die Anbetung der Könige (W) und die Darbringung im Tempel (G), Stiftungen der
Nürnberger Familie Praunengel von 1505 (das Wappen unter der Anbetung wurde später, bei der Übertragung der
Scheibe in die Pfarrkirche Wöhrd getilgt). Im achten Fenster befand sich rechts der Bethlehemitische Kindermord (W),
eine Stiftung der Familie Tücher, gefolgt vermutlich von der Flucht nach Ägypten links daneben. Das neunte Fenster -
entweder das letzte im Ostflügel oder, weniger wahrscheinlich, bereits das erste des südlichen Kreuzgangsflügels -
markiert mit dem Zwölfjährigen im Tempel (G) und der Taufe Christi (W) die Zäsur zwischen den Ereignissen der
Kindheit und der Öffentlichen Wirksamkeit Christi.
Fenster 10 im Südflügel zeigte links die Versuchung Christi (G), wahrscheinlich gefolgt von der Verklärung auf dem
Berge Tabor26, Fenster 11 die Freisprechung der Ehebrecherin (G) und - wohl unmittelbar vor dem Eintritt in die Brun-
nenkapelle der Hl. Ottilie, sinnigerweise die Begegnung Christi mit der Samariterin am Brunnen (W). Am Beginn des
Südflügels könnte ehemals ein Ausgang in den Garten des Kreuzgangs geführt haben, wenn sich dieser nicht bereits im
ersten Joch des Ostflügels befand (entscheidend ist nur, daß wir insgesamt wohl mit einem Fensterplatz weniger zu
rechnen haben, der durch die Tür verloren ging). Der Südflügel besaß darüber hinaus seine eigene Gesetzmäßigkeit,
denn hier unterbrach das Brunnenhaus - mutmaßlich identisch mit der im 15. Jahrhundert angebauten und auch beim
Verkauf des Klosters 1558 im Garten des Kreuzgangs erwähnten Ottilienkapelle - die gleichmäßige Abfolge der

24 Als Textgrundlage der ausgedehnten Bilderfolge dienten neben den
kanonischen Büchern des Neuen Testaments die apokryphen Schriften
zur Vorgeschichte der Eltern und zur Geburt Mariae, das Protevange-
lium des Jakobus, das Evangelium Pseudo-Matthaei sive Uber de ortu
beatae Mariae et infantia Salvatoris, das knappere Evangelium de nativi-
tate Mariae und die spätere Kompilation der Ereignisse in der Legenda
aurea des Dominikaners Jakobus de Voragine. Zu Entstehung, Überlie-
ferungsgeschichte und Inhalt der apokryphen Texte vgl. Tischendorf,
1876, S. 1-121, und Schneemelcher, 6i99o, I, S. 330-386.
25 StadtAN, Frauenbrüder Nr. 1: Anniversarium des Karmelitenklo-
sters, Y-Akten 209 (zitiert nach Ulrich, 1979, S. 19I.).

26 Ein Scheibenriß Baldungs für die Transfiguration (Bern, Historisches
Museum, Inv. 20036.3) wird trotz formaler Ähnlichkeiten zum Karmeli-
terzyklus übereinstimmend erst in die frühen Jahre der ersten Straßbur-
ger Meisterzeit des Künstlers, um 1508/9, gesetzt; vgl. Karl Theodor
Parker, Quelques dessins de Hans Baldung ä Paris, in: Archives Alsa-
ciennes 3, 1924, S. 24; Koch, 1941, Nr. 70; Knappe, Baldung, 1963, S. 70
(Anm. 380); Rolf Hasler, Die Scheibenriss-Sammlung Wyss, Katalog
Bd. 2, Bern 1997, S. 295, und zuletzt Rüdiger Becksmann, in: Kat. Ausst.
Freiburg i.Br. 2001, Nr. 54.
 
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