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Scholz, Hartmut
Die mittelalterlichen Glasmalereien in Mittelfranken und Nürnberg (extra muros): Anhänge, Tafeln — Corpus vitrearum medii aevi - Deutschland, Band 10,1, Teil 2: Berlin: Deutscher Verlag für Kunstwissenschaft, 2002

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https://doi.org/10.11588/diglit.52870#0019
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546 ANHANG l: ABGEWANDERTE SCHEIBEN
Kreuzgangsfenster. In die Gesamtkonzeption der neuen Kreuzgangsverglasung muß diese Brunnenkapelle von Anfang
an mit einbezogen worden sein, denn ohne diese Voraussetzung wäre nicht einmal der reduzierte Scheibenbestand in
den vorhandenen Fenstern unterzubringen. Über die Gestalt der Kapelle besitzen wir zwar leider keine Anhaltpunkte
mehr, wir wissen nicht einmal, mit wievielen Fensteröffnungen wir genau zu rechnen haben. Nimmt man aber die
erhaltenen Felder und beachtet neben der ikonographischen Abfolge auch die technisch-stilistischen Symmetrien, die
sich alle mit dem späten Datum 1511 der Fuß Waschung verbinden lassen, dann ergibt sich etwa der nachstehende Fort-
gang: Es folgten zunächst zwei weitere Ereignisse der Öffentlichen Wirksamkeit Christi, von denen sich aber kein Feld
erhalten hat. Angesichts des Patroziniums der Kapelle wäre hierbei - sozusagen im Sinne einer typologischen Paralleli-
sierung - die Heilung des Blindgeborenen zu favorisieren: Ottilia selbst war bekanntlich blind geboren und hat der
Legende zufolge erst bei der Taufe durch den Hl. Erhard das Augenlicht erhalten27. In den anschließenden Fenstern
13-18 folgte dann jedenfalls, stets paarweise zugeordnet, der Einzug in Jerusalem (H) und die Tempelreinigung (H),
das fragmentarisch u\rer\\Aene Abendmahl (W), wohl wie im Speculum passionis des Ulrich Pinder oder Dürers kleiner
Holzschnittpassion eingeleitet durch Christi Abschied von seiner Mutter, danach im mutmaßlichen Achsenfenster der
Kapelle die Fußtvaschung (W), 1511 datiert, und das Gebet am Ölberg (W); es folgten die Gefangennahme (H) und die
seltene Szene, in der Christus durch den Bach Kidron gezerrt wird (H), die Vorführung vor Annas (W) und das Verhör
durch Kaiphas; schließlich noch die Verspottung Christi (W, verschollen), die im frühen 19. Jahrhundert noch in stark
beschädigtem Zustand überliefert war, und die seit 1945 verschollene, wenigstens in einem Foto bekannte erste Vor-
führung vor Pilatus (W, verschollen).
Zurück im Kreuzgang nahm die Geschichte, wie zuvor, in zweibahnigen Fenstern ihren Fortgang, nun vermutlich wie-
der mit Stifterwappen, die allerdings in den meisten Fällen später getilgt worden sind28: in Fenster 19 saß die Geißelung
Christi (H), eingeleitet durch die Entkleidung oder das Verhör durch Herodes (H), danach in Fenster 20 die Dornen-
krönung (NL, verschollen) und Ecce Homo (NL) - beides Stiftungen der Nürnberger Patrizierfamilie Volckamer - und
in Fenster 21 schließlich das Bildpaar der Handwaschung des Pilatus (W, verschollen) und der Kreuztragung
Im westlichen Kreuzgangsflügel waren abschließend die Ereignisse vor der Auferstehung und die verschiedenen
Erscheinungen des Herrn bis zum Weltgericht dargestellt: In Fenster 22 Kreuzanheftung (H) und Kreuzigung (W), in
Fenster 23 die Höllenfahrt Christi (W), ehemals eingeleitet durch Kreuzabnahme, Beweinung oder Grablegung, in
Fenster 24 die Auferstehung und Noli me tangere (W), in Fenster 25 das Emmausmahl (G) und der Ungläubige Thomas
(W), in Fenster 26 wohl die Himmelfahrt und die Ausgießung des Hl. Geistes (W), in Fenster 27, auf zwei Felder ausge-
dehnt, der Abschied der Apostel (W, verschollen), und zu guter Letzt in Fenster 28 das Weltgericht, aufgrund des engen
Jochs vielleicht nur als einbahniges Fenster, sonst begleitet durch Marientod oder -krönung. Die Szenenwahl dieses
äußerst umfangreichen Zyklus deckt sich übrigens - und das untermauert die hier vorgelegte Rekonstruktion - in allen
wesentlichen Partien mit den berühmten Holzschnittfolgen der Zeit: die Szenen im Ostflügel naturgemäß mit Dürers
Marienleben von 1503/10, die Leidensgeschichte andererseits mit Ulrich Pinders Speculum passionis von 1507 (mit
Holzschnitten von Baldung und Schäufelein) sowie Dürers Kleiner Holzschnittpassion von 1509/1i29.
Die zeitliche Abfolge der Fensterstiftungen deckte sich offenkundig nicht in allen Fällen mit der ikonographischen
Szenenfolge: Das erklärt sich, entgegen früheren Vermutungen, wohl nicht dadurch, daß den Stiftern in der Auswahl
der Themen aus dem vorgegebenen Programm absolut freie Hand gegeben war. Vielmehr dürften andere Rahmenbe-
dingungen für die Brüche in der Chronologie des Zyklus verantwortlich gewesen sein: Dies betrifft zum einen die bei-
den ersten Fenster des Ostflügels, die sicher nicht ohne Grund erst vier Jahre nach Beginn der Verglasungskampagne
mit Fensterstiftungen der beiden Initiatoren, Schürstab und Schreyer, ausgestattet worden sind, während die frühesten
Stiftungen nachweislich erst mit dem dritten Fenster der Folge ihren Auftakt nahmen. Zum anderen fällt auch die
gesamte Ottilienkapelle mit ihrer stilistisch zusammengehörigen Gruppe und dem späten Datum 1511 in der Szene der

27 Braun, 1943, Sp. 576-580; LCI, VIII, 1976, Sp. 76-79.
28 Darauf deuten zuallererst die großflächigen Ergänzungen, die in zahl-
reichen Feldern in Wöhrd genau die betreffenden unteren Ecken der
Glasgemälde markieren, an denen sich für gewöhnlich (so in allen
Gründlacher Scheiben) die Stifterwappen befinden.
29 Vgl. Knappe, 1964, Mende, 1978, und Schreyl, 1990.

30 Knappe, Baldung, 1963, Anm. 275; vgl. dagegen bereits die Entgeg-
nung Scholz, Werkstattpraxis, 1991, Anm. 250.
31 ScHWEMMER, 1933, S. 44.
32 Fol. 77r: Christus vor Pilatus', dieselbe Szene bei Mende, 1978, S. 54,
Nr. 241, falsch und mit Fragezeichen als Christus vor Herodes? bezeich-
net; zutreffend dagegen bei Knappe, Baldung, 1963, S. 71.
 
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