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AMELUNGSBORN • EHEMALIGES ZISTERZIENSERKLOSTER
lichkeit, ja »gleiche kompositorische Grundlage« zwischen der Rahmung der Amelungsborner Vorfahren-Christi-
Darstellungen und derjenigen des Katharinenfensters aus Hersfeld (Fig. 46) hin, die im Verein mit weiteren stilkri-
tischen Beobachtungen sogar auf eine gemeinsame Werkstatttradition schließen lassen53. Tatsächlich verraten sowohl
der Verlauf der Ranken als auch die Form der Einzelblätter eine enge Verwandtschaft, obschon diese Elemente auch
auf die ältere Tradition der Bibelfenster zurückgeführt werden können54.
Die plakative Wirkung der Vorfahren-Christi-Scheiben beruht auf einer relativ begrenzten Farbskala, die sich mit
minimalen Abweichungen von Feld zu Feld wiederholt: kalkweiße Weinranken auf tief rotem Hintergrund, ebenso
kalkweiße Mäntel der Vorfahren Christi über roten bzw. violetten Untergewändern, bernsteingelbe Throne und tief-
blaue Hintergründe der Bildfelder. Der Scherbenbestand aus dem ehemaligen Ostfenster erlaubt es hingegen nicht,
ein objektives Bild über dessen Farbigkeit zu gewinnen: Lediglich ein helles Violett, ein kaltes Flaschengrün und ein
Blassblau kommen zu den bereits aufgezählten Farben hinzu und bestimmten mutmaßlich die kühlere Farbpalette
der ehemaligen Verglasung. Erstaunlicherweise begegnet hier eine für die Zeit recht großzügige Verwendung von
Silbergelb, sowohl in den Figuren als auch in der Architektur55.
Technik, Stil, Datierung: Da im unmittelbaren Umfeld von Amelungsborn keine zeitgleichen, auch nur annä-
hernd verwandten Verglasungen erhalten geblieben sind, sind wir gezwungen, auf weiter entfernte Vergleichsbei-
spiele zurückzugreifen. Die engsten Bezüge zum Amelungsborner Bestand ergeben sich zweifellos mit den Resten
eines im 3. Viertel des 14. Jahrhunderts entstandenen Katharinen-Zyklus aus dem Langhaus der Stadtkirche zu Hers-
feld (heute Kassel-Wilhelmshöhe, Löwenburgkapelle)56. Sowohl die bereits von Daniel Parello angesprochenen
kompositorischen Bezüge zwischen Hersfeld und Amelungsborn als auch einzelne maltechnische Details lassen auf
einen gemeinsamen Werkstattkreis, wenn nicht gar auf dieselbe Werkstatt schließen. So begegnen in beiden Bestän-
den verwirrend ähnliche Züge einer eingeübten, ja routinierten Gesichtszeichnung: verwundert erhobene - bei den
weiblichen Gesichtern gleichmäßig abgerundete, bei den Männern aus der Nasenlinie herauslaufende, eckig gebro-
chene - Augenbrauen, schmale mandelförmige Augen mit hochgesetzten Pupillen und charakteristischen doppelten
Linien der Augenlider, stets leicht geöffnete - bei den männlichen Typen nahezu grimmig wirkende - Münder und
die Korkenzieherlöckchen zu beiden Seiten der Gesichter, die sich in den Bartpartien in zwei spiegelsymmetrische
Wellen teilen. Darüber hinaus stimmen in beiden Denkmälern die Formen der Faltenmodellierung mit breiten be-
weglichen Linien überein, die, oft mit trockenen, scharfkantigen Strichen, gelegentlich durch parallel verlaufende,
im Halbton ausgeführte Schatten vertieft, die voluminösen Faltenkaskaden beschreiben. Ebenso lassen sich die eher
zurückhaltende Körpersprache der Figuren und die Einzelheiten in der Zeichnung der Weinranken- wie der Archi-
tekturrahmung vergleichen. Unterschiede zeigen jedoch die Proportionen der Figuren - biegsam elegant in Ame-
lungsborn, stämmiger und derb in Hersfeld - sowie jene in Amelungsborn sehr ausgeprägte, in Hersfeld hingegen
kaum vorkommende Kreuzschraffur in der Gesichts- und Faltenzeichnung (Fig. 46-49).
Auch die Figuren der Ahnen Christi lassen sich trotz ihrer schablonenhaften Wirkung und durchaus ökonomischen
maltechnischen Behandlung auf die gleiche Werkstatt des Achsenfensters zurückführen, wobei für die Ausführung
mit einem gewissen zeitlichen Abstand zu rechnen ist57. Allerdings lassen die einfallsreiche Komposition, die aus-
geprägte Plastizität der Gewandmodellierung, die elegante Linienführung und der Sinn für dekorative Details im
Achsenfenster im Vergleich zur Genealogie Christi eine höhere Qualitätsstufe erkennen, die vermutlich durch die
Gewichtung des Auftrags zu erklären ist. Rein motivisch lassen sich die auf ihren Thronen sitzenden Figuren der
Patriarchen auf die Autorenbilder in den Seitenbahnen des Chorachsenfensters von St. Dionys in Esslingen (um
1300) zurückführen, doch darüber hinaus bestehen weder stilistische noch formale Parallelen zu diesem Bestand58.
53 Parello 2008, S. 226, Fig. 2iof.
54 Vergleiche z.B. das Achsenfenster in St. Dionys in Esslingen
(Becksmann 1997, S. 63 mit Abb. 47) oder das Bibelfenster in der Ma-
rienkapelle des Domes zu Halberstadt (Fitz 2003, S. 472 mit Abb. 4E).
55 Im Gegensatz zur englischen und französischen Glasmalerei der
ersten Hälfte des 14. Jh. sowie ihrer Einflussgebiete im Rheinland
und speziell in Köln war im übrigen deutschsprachigen Raum der
Gebrauch von Silbergelb wesentlich geringer verbreitet. Bedeutende
Ausnahmen von dieser Regel sind in den Chorverglasungen der Ess-
linger Frauenkirche (um 1330) und der Klosterkirche zu Königsfelden
auf uns gekommen (um 1330/40); vgl. Becksmann 1997, S. 120, bzw.
Kurmann-Schwarz 2008, S. 121 f.; ausführlich hierzu Emil Maurer/
Stephan Gratwohl, Silbergelb in Königsfelden, in: ÖZKD 40, 1986,
S. 171-175. Allgemein zum Aufkommen von Silbergelb in der Glasma-
lerei Lautier 1999, S. 227-260.
56 Parello 2008, S. 216-228, 236-238, Abb. 148-152.
57 Bereits Hans Wentzel hatte diese Möglichkeit angesprochen,
allerdings aufgrund einer irrtümlichen Vermutung, dass im Chor-
schlussfenster zwei aus verschiedenen Fensteröffnungen stammende
und zu unterschiedlichen Zeiten entstandene Zyklen während der
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lichkeit, ja »gleiche kompositorische Grundlage« zwischen der Rahmung der Amelungsborner Vorfahren-Christi-
Darstellungen und derjenigen des Katharinenfensters aus Hersfeld (Fig. 46) hin, die im Verein mit weiteren stilkri-
tischen Beobachtungen sogar auf eine gemeinsame Werkstatttradition schließen lassen53. Tatsächlich verraten sowohl
der Verlauf der Ranken als auch die Form der Einzelblätter eine enge Verwandtschaft, obschon diese Elemente auch
auf die ältere Tradition der Bibelfenster zurückgeführt werden können54.
Die plakative Wirkung der Vorfahren-Christi-Scheiben beruht auf einer relativ begrenzten Farbskala, die sich mit
minimalen Abweichungen von Feld zu Feld wiederholt: kalkweiße Weinranken auf tief rotem Hintergrund, ebenso
kalkweiße Mäntel der Vorfahren Christi über roten bzw. violetten Untergewändern, bernsteingelbe Throne und tief-
blaue Hintergründe der Bildfelder. Der Scherbenbestand aus dem ehemaligen Ostfenster erlaubt es hingegen nicht,
ein objektives Bild über dessen Farbigkeit zu gewinnen: Lediglich ein helles Violett, ein kaltes Flaschengrün und ein
Blassblau kommen zu den bereits aufgezählten Farben hinzu und bestimmten mutmaßlich die kühlere Farbpalette
der ehemaligen Verglasung. Erstaunlicherweise begegnet hier eine für die Zeit recht großzügige Verwendung von
Silbergelb, sowohl in den Figuren als auch in der Architektur55.
Technik, Stil, Datierung: Da im unmittelbaren Umfeld von Amelungsborn keine zeitgleichen, auch nur annä-
hernd verwandten Verglasungen erhalten geblieben sind, sind wir gezwungen, auf weiter entfernte Vergleichsbei-
spiele zurückzugreifen. Die engsten Bezüge zum Amelungsborner Bestand ergeben sich zweifellos mit den Resten
eines im 3. Viertel des 14. Jahrhunderts entstandenen Katharinen-Zyklus aus dem Langhaus der Stadtkirche zu Hers-
feld (heute Kassel-Wilhelmshöhe, Löwenburgkapelle)56. Sowohl die bereits von Daniel Parello angesprochenen
kompositorischen Bezüge zwischen Hersfeld und Amelungsborn als auch einzelne maltechnische Details lassen auf
einen gemeinsamen Werkstattkreis, wenn nicht gar auf dieselbe Werkstatt schließen. So begegnen in beiden Bestän-
den verwirrend ähnliche Züge einer eingeübten, ja routinierten Gesichtszeichnung: verwundert erhobene - bei den
weiblichen Gesichtern gleichmäßig abgerundete, bei den Männern aus der Nasenlinie herauslaufende, eckig gebro-
chene - Augenbrauen, schmale mandelförmige Augen mit hochgesetzten Pupillen und charakteristischen doppelten
Linien der Augenlider, stets leicht geöffnete - bei den männlichen Typen nahezu grimmig wirkende - Münder und
die Korkenzieherlöckchen zu beiden Seiten der Gesichter, die sich in den Bartpartien in zwei spiegelsymmetrische
Wellen teilen. Darüber hinaus stimmen in beiden Denkmälern die Formen der Faltenmodellierung mit breiten be-
weglichen Linien überein, die, oft mit trockenen, scharfkantigen Strichen, gelegentlich durch parallel verlaufende,
im Halbton ausgeführte Schatten vertieft, die voluminösen Faltenkaskaden beschreiben. Ebenso lassen sich die eher
zurückhaltende Körpersprache der Figuren und die Einzelheiten in der Zeichnung der Weinranken- wie der Archi-
tekturrahmung vergleichen. Unterschiede zeigen jedoch die Proportionen der Figuren - biegsam elegant in Ame-
lungsborn, stämmiger und derb in Hersfeld - sowie jene in Amelungsborn sehr ausgeprägte, in Hersfeld hingegen
kaum vorkommende Kreuzschraffur in der Gesichts- und Faltenzeichnung (Fig. 46-49).
Auch die Figuren der Ahnen Christi lassen sich trotz ihrer schablonenhaften Wirkung und durchaus ökonomischen
maltechnischen Behandlung auf die gleiche Werkstatt des Achsenfensters zurückführen, wobei für die Ausführung
mit einem gewissen zeitlichen Abstand zu rechnen ist57. Allerdings lassen die einfallsreiche Komposition, die aus-
geprägte Plastizität der Gewandmodellierung, die elegante Linienführung und der Sinn für dekorative Details im
Achsenfenster im Vergleich zur Genealogie Christi eine höhere Qualitätsstufe erkennen, die vermutlich durch die
Gewichtung des Auftrags zu erklären ist. Rein motivisch lassen sich die auf ihren Thronen sitzenden Figuren der
Patriarchen auf die Autorenbilder in den Seitenbahnen des Chorachsenfensters von St. Dionys in Esslingen (um
1300) zurückführen, doch darüber hinaus bestehen weder stilistische noch formale Parallelen zu diesem Bestand58.
53 Parello 2008, S. 226, Fig. 2iof.
54 Vergleiche z.B. das Achsenfenster in St. Dionys in Esslingen
(Becksmann 1997, S. 63 mit Abb. 47) oder das Bibelfenster in der Ma-
rienkapelle des Domes zu Halberstadt (Fitz 2003, S. 472 mit Abb. 4E).
55 Im Gegensatz zur englischen und französischen Glasmalerei der
ersten Hälfte des 14. Jh. sowie ihrer Einflussgebiete im Rheinland
und speziell in Köln war im übrigen deutschsprachigen Raum der
Gebrauch von Silbergelb wesentlich geringer verbreitet. Bedeutende
Ausnahmen von dieser Regel sind in den Chorverglasungen der Ess-
linger Frauenkirche (um 1330) und der Klosterkirche zu Königsfelden
auf uns gekommen (um 1330/40); vgl. Becksmann 1997, S. 120, bzw.
Kurmann-Schwarz 2008, S. 121 f.; ausführlich hierzu Emil Maurer/
Stephan Gratwohl, Silbergelb in Königsfelden, in: ÖZKD 40, 1986,
S. 171-175. Allgemein zum Aufkommen von Silbergelb in der Glasma-
lerei Lautier 1999, S. 227-260.
56 Parello 2008, S. 216-228, 236-238, Abb. 148-152.
57 Bereits Hans Wentzel hatte diese Möglichkeit angesprochen,
allerdings aufgrund einer irrtümlichen Vermutung, dass im Chor-
schlussfenster zwei aus verschiedenen Fensteröffnungen stammende
und zu unterschiedlichen Zeiten entstandene Zyklen während der