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ZWEITER ABSCHNITT

Das Wesen der mittelalterlichen Kunst
Aus diesen beiden Wurzeln, dem frühen Germanen- und Kelten-
tum und der späten orientalisierten Antike, ist die Kultur
und Kunst des Mittelalters erwachsen. Dabei scheint von vorn-
herein klar zu sein, daß das junge nördliche Element das
wesenhaft tragende und entscheidende, das tätige und schöpfe-
rische ist, daß das andere Element dagegen wesentlich die Art
der Gestaltung, die Formungen des Geistes und der Produktion,
den Vorstellungsgehalt und die Bildungsmöglichkeiten bestimmte.
In welcher Weise beide Kräfte einander verstärkten, einander be-
kämpften, und wie sie den Fortgang und die stilistische Entwick-
lung der Kunst bestimmten, das ist die Geschichte der mittelalter-
lichen Kunst selber.
Bevor jedoch am Beispiel besonders wichtiger und bezeichnender
Schöpfungen der Verlauf der künstlerischen Entwicklung in Deutsch-
land bis in jene Zeit verfolgt wird, in der ein neuer, von außen, dies-
mal vom Westen, von Frankreich her kommender Antrieb die
deutsche Kunst vorwärts und auf neue Bahnen stieß, ist es gut, die
besonderen Probleme der künstlerischen Entwicklung in dieser
Periode und die eigentümliche Rolle Deutschlands in dieser Zeit
im Überblick zu betrachten.
Die Macht des Merowingerreiches, mehr noch die lange Berührung
der Nordvölker mit der Antike und das Vordringen des antik gefärb-
ten Christentums durch die Mission hatten schon die ernste und
durchdringende Übernahme des antiken Erbes vorbereitet und fast
dringlich gemacht. In der Tat ist die merowingische Kunst und die
der irischen Klöster ein Vorspiel der kommenden mittelalterlichen;
so sehr, daß man im allgemeinen — und mit gewissem Recht —
mit ihr die Geschichte der mittelalterlichen Kunst zu beginnen
pflegt. Tiefer gesehen, zeigt sich jedoch — wie wir schon aus-
führten —, daß die entscheidende Tat, das Fortreißen in die positive
Entwicklung, in diesen vorkarolingischen Werken noch nicht
geschehen ist. Jene Anregung durch die Antike, die wir in den
frühesten insularen Handschriften, etwa dem Book of Durrow und
auch im Book of Kells, sehr deutlich spüren, wird von den späteren
Handschriften nicht aufgenommen; vielmehr zeigt das fortschrei-
 
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