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II. Das Wesen der mittelalterlichen Kunst
Karl und alle mittelalterlichen Kaiser sind Herrscher nicht eines
geistigen Reichs, sondern eines diesseits wirklichen, des Franken-
reichs, des Imperium Romanum, oder wie man es nennt, sie sind
nicht geistig Herren, sondern Kaiser mit Macht und Schwert. Aber
eben dieses Reich ist das Reich der Christen, ist die Christenheit,
und was außerhalb des Reiches (wenigstens der Idee nach) ist, das
sind nicht etwa andere Reiche, sondern das sind die Heiden, das
ist das Reich des Teufels, des Antichrists. Der Kaiser ist (oder will
der Idee nach sein) der Arm, das Schwert der Kirche. Seine Auf-
gabe ist, das Reich Gottes auf Erden zu errichten. So diesseits-
wirklich durch Gewalt, Krieg und durch Herrschaft über Leiber und
Land die Macht dieses Imperiums ist, so ist sie doch zugleich in
diesem allem geistliche Macht.
Das heißt, der von der späten Antike (Augustin) vergeistigte und
vergeistlichte Gedanke des Weltreichs wird vom Mittelalter neu ver-
leiblicht. Der Herrschaftsgedanke hat im Mittelalter nichts von
realer Derbheit gegenüber dem Herrschaftsgedanken der frühen
Antike, des alten Orients und der germanischen Frühzeit eingebüßt
und ist dennoch — höchst paradox — bereichert durch den eigen-
tümlichen schillernden Reichtum des spätantiken, philosophisch-
spekulativen Spiritualismus.
Der frühen Antike gegenüber hat sich trotz einer Gleichheit,
die in der Naivität und Lebensunmittelbarkeit und zukunfts-
trächtigen Jugendfrische beruht, die Welt völlig verändert. Damals
war der Kern des Staates und des Weltbildes der Mensch und die
,,Polis“, im Mittelalter ist selbst das Handgreiflichste, die Gewalt,
von jenseits bestimmt und ,,nicht von dieser Welt“. Das ist das
Erbe der späten christlichen Antike. Auch ihr war die Welt bestimmt
und deutbar nur vom Geiste, auch sie schied die Menschheit geist-
lich, in Christen und Heiden, in Reich Gottes und Reich des Teufels.
Dennoch bleibt es falsch, das Mittelalter und die mittelalterliche
Kunst im besonderen spiritualistisch zu nennen: denn das Ent-
scheidende ist, daß das Mittelalter das Geistliche als Realität dieser
Welt kennt, so wie auch das Reich des Teufels für den mittel-
alterlichen Menschen handgreifliche Realität ist.
Von der späten Antike aus gesehen ist das Mittelalter eine
ungeheuerliche Barbarisierung des Christentums und Primitivi-
sierung der Antike. Denn alle jene sublimen geistigen Feinheiten,
alle Zartheit und Kühnheit der eleganten und tiefsinnigen Philo-
sophie fehlten dem neuen, robusteren Geschlecht. Der Dualismus
II. Das Wesen der mittelalterlichen Kunst
Karl und alle mittelalterlichen Kaiser sind Herrscher nicht eines
geistigen Reichs, sondern eines diesseits wirklichen, des Franken-
reichs, des Imperium Romanum, oder wie man es nennt, sie sind
nicht geistig Herren, sondern Kaiser mit Macht und Schwert. Aber
eben dieses Reich ist das Reich der Christen, ist die Christenheit,
und was außerhalb des Reiches (wenigstens der Idee nach) ist, das
sind nicht etwa andere Reiche, sondern das sind die Heiden, das
ist das Reich des Teufels, des Antichrists. Der Kaiser ist (oder will
der Idee nach sein) der Arm, das Schwert der Kirche. Seine Auf-
gabe ist, das Reich Gottes auf Erden zu errichten. So diesseits-
wirklich durch Gewalt, Krieg und durch Herrschaft über Leiber und
Land die Macht dieses Imperiums ist, so ist sie doch zugleich in
diesem allem geistliche Macht.
Das heißt, der von der späten Antike (Augustin) vergeistigte und
vergeistlichte Gedanke des Weltreichs wird vom Mittelalter neu ver-
leiblicht. Der Herrschaftsgedanke hat im Mittelalter nichts von
realer Derbheit gegenüber dem Herrschaftsgedanken der frühen
Antike, des alten Orients und der germanischen Frühzeit eingebüßt
und ist dennoch — höchst paradox — bereichert durch den eigen-
tümlichen schillernden Reichtum des spätantiken, philosophisch-
spekulativen Spiritualismus.
Der frühen Antike gegenüber hat sich trotz einer Gleichheit,
die in der Naivität und Lebensunmittelbarkeit und zukunfts-
trächtigen Jugendfrische beruht, die Welt völlig verändert. Damals
war der Kern des Staates und des Weltbildes der Mensch und die
,,Polis“, im Mittelalter ist selbst das Handgreiflichste, die Gewalt,
von jenseits bestimmt und ,,nicht von dieser Welt“. Das ist das
Erbe der späten christlichen Antike. Auch ihr war die Welt bestimmt
und deutbar nur vom Geiste, auch sie schied die Menschheit geist-
lich, in Christen und Heiden, in Reich Gottes und Reich des Teufels.
Dennoch bleibt es falsch, das Mittelalter und die mittelalterliche
Kunst im besonderen spiritualistisch zu nennen: denn das Ent-
scheidende ist, daß das Mittelalter das Geistliche als Realität dieser
Welt kennt, so wie auch das Reich des Teufels für den mittel-
alterlichen Menschen handgreifliche Realität ist.
Von der späten Antike aus gesehen ist das Mittelalter eine
ungeheuerliche Barbarisierung des Christentums und Primitivi-
sierung der Antike. Denn alle jene sublimen geistigen Feinheiten,
alle Zartheit und Kühnheit der eleganten und tiefsinnigen Philo-
sophie fehlten dem neuen, robusteren Geschlecht. Der Dualismus