LE LIVRE DU PAUMIER
VON KARL CHRIST, HALLE a.S.
Ein Beitrag zur Kenntnis der altfranzösischen Mystik
1. Palma contemplationis
DURCH die intuitive Versenkung in Gott, die Beschauung, gelangt der Mystiker zur
innigen Vereinigung mit dem höchsten Gut, seine Seele zur Gottesbrautschaft.
Dieses höchste Glück ist eine Gnade, die nur dem sittlich vollkommenen Menschen
zuteil wird. Der Weg zu ihr ist lang und mühsam. Er gleicht dem Anstieg eines
hohen Berges, der stufenweise genommen, einer Leiter, die erklommen, einem
Baume, der erstiegen werden muß. Unermüdlich ist die Mystik bestrebt, die ver-
schiedenen Stufen des mystischen Heilswegs zu bezeichnen, neue Arten und Kom-
binationen der Skala zu ersinnen.
Unter diesen Allegorien erfreute sich die des Palmbaums, der Palma contem-
plationis, auf deutschem Gebiete großer Beliebtheit, die dadurch bezeugt ist,
daß die deutsche Fassung in sehr zahlreichen Handschriften überliefert ist und auch
in die bekannte Sammlung des sog. St. Georgener Predigers Aufnahme gefunden hat.
In lateinischen Handschriften wird der predigthafte Traktat dem hl. Bernhard
zugeschrieben. Mehr noch verdient er mit Bonaventura in Verbindung gebracht
zu werden. Er bewegt sich jedenfalls in der Gedanken- und Gefühlswelt der beiden
großen Meister der abendländischen Mystik, zeigt die ihnen eigene starke rhetorische
Gefühlsmäßigkeit, ihre sinnige Neigung, abstrakte theologische Begriffe mit Gegen-
ständen der Natur, mit Blumen und Vögeln zu vergleichen und diese Vergleiche in
ein phantasievolles Sprachgewand zu kleiden. Bei Ruusbroec und Geiler von Kaisers-
berg hat diese allegorische Betrachtungsweise in der deutschen Mystik ihre stärkste
Ausprägung erfahren. Der Palmbaum gehört zu den zahlreichen Traktaten alle-
gorisch-erbaulicher Mystik, die zu Unrecht mit den Namen der Vorbilder, des
hl. Bernhard und Bonaventuras, geschmückt wurden. Des Verfassers Kenntnis
der Schriften Bonaventuras zeigt sich in sachlichen Übereinstimmungen und
wörtlichen Anklängen1). Er hat offenbar den Traktat vom Mystischen Wein-
stock gekannt, der öfters unter den Werken des hl. Bernhard gedruckt und, wenn
auch in Erkenntnis der Unechtheit, von Mabillon in seine Ausgabe der Werke des
Abtes von Clairvaux aufgenommen wurde2). Neuerdings haben ihn die Franzis-
Vgl. die Anmerkungen zur Ausgabe des französischen Textes.
2) Migne, Patrologia latina T. 184, Sp. 635.
VON KARL CHRIST, HALLE a.S.
Ein Beitrag zur Kenntnis der altfranzösischen Mystik
1. Palma contemplationis
DURCH die intuitive Versenkung in Gott, die Beschauung, gelangt der Mystiker zur
innigen Vereinigung mit dem höchsten Gut, seine Seele zur Gottesbrautschaft.
Dieses höchste Glück ist eine Gnade, die nur dem sittlich vollkommenen Menschen
zuteil wird. Der Weg zu ihr ist lang und mühsam. Er gleicht dem Anstieg eines
hohen Berges, der stufenweise genommen, einer Leiter, die erklommen, einem
Baume, der erstiegen werden muß. Unermüdlich ist die Mystik bestrebt, die ver-
schiedenen Stufen des mystischen Heilswegs zu bezeichnen, neue Arten und Kom-
binationen der Skala zu ersinnen.
Unter diesen Allegorien erfreute sich die des Palmbaums, der Palma contem-
plationis, auf deutschem Gebiete großer Beliebtheit, die dadurch bezeugt ist,
daß die deutsche Fassung in sehr zahlreichen Handschriften überliefert ist und auch
in die bekannte Sammlung des sog. St. Georgener Predigers Aufnahme gefunden hat.
In lateinischen Handschriften wird der predigthafte Traktat dem hl. Bernhard
zugeschrieben. Mehr noch verdient er mit Bonaventura in Verbindung gebracht
zu werden. Er bewegt sich jedenfalls in der Gedanken- und Gefühlswelt der beiden
großen Meister der abendländischen Mystik, zeigt die ihnen eigene starke rhetorische
Gefühlsmäßigkeit, ihre sinnige Neigung, abstrakte theologische Begriffe mit Gegen-
ständen der Natur, mit Blumen und Vögeln zu vergleichen und diese Vergleiche in
ein phantasievolles Sprachgewand zu kleiden. Bei Ruusbroec und Geiler von Kaisers-
berg hat diese allegorische Betrachtungsweise in der deutschen Mystik ihre stärkste
Ausprägung erfahren. Der Palmbaum gehört zu den zahlreichen Traktaten alle-
gorisch-erbaulicher Mystik, die zu Unrecht mit den Namen der Vorbilder, des
hl. Bernhard und Bonaventuras, geschmückt wurden. Des Verfassers Kenntnis
der Schriften Bonaventuras zeigt sich in sachlichen Übereinstimmungen und
wörtlichen Anklängen1). Er hat offenbar den Traktat vom Mystischen Wein-
stock gekannt, der öfters unter den Werken des hl. Bernhard gedruckt und, wenn
auch in Erkenntnis der Unechtheit, von Mabillon in seine Ausgabe der Werke des
Abtes von Clairvaux aufgenommen wurde2). Neuerdings haben ihn die Franzis-
Vgl. die Anmerkungen zur Ausgabe des französischen Textes.
2) Migne, Patrologia latina T. 184, Sp. 635.