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Hochschule für Industrielle Formgestaltung [Hrsg.]
Designtheoretisches Kolloquium — 16.1995

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Funke, Rainer: Cyberspace versus Homukulus? Beginnt das Problem im Virtuellen?
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https://doi.org/10.11588/diglit.31840#0056
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die mit jedem neuen Schritt zugleich auch
Abschied von einem überkommenen Bild vom
Menschen ist, das einen unkünstlichen Ur-
sprung unterstellt, auch Abschied von realen
Lebensformen.

Insofern also die Folgen einer Vernunft-ge-
tragenen Projektion vom lch auf Anderes im
Widerstreit gegen die EndIichkeit sind, bilden
Barbie und Ken, die Marlboro- und West-Re-
klame und der neue Mercedes-Benz als
holistische Gegenwelt durchaus eine Einheit
und sind Bestandteil des umfassenden
Menschheitsprojektes Homunkulus:
die künstliche Erschaffung des Menschen
durch Menschenhand.

Virtuelle* Welten sind in diesem Entwick-
lungszusammenhang lediglich die neuere
Stufe der Erscheinungsweise der Folgen un-
serer Ich-Projektionen in ihrer Genese mit den
Etappen: Laut, Wort, Schrift, Druck; bilden-
de Künste, Musik, Tanz; Fotografie, Tonband,
Film, Fernsehen, Video, Computer, elektroni-
sche Netze usw.

*lch gebrauche diesen Begriff hier so, wie wir uns seinen
Inhalt anhand von computergenerierten Phänomenen vor-
stellen:

Etwas, das nur in Teilen den Schritt von der abstrakt-codier-
ten Möglichkeit zur sinnlichen Wirklichkeit vollzogen hat,
die Berührung, die Wahrnehmung, ohne daß es hinter der
Wahrnehmung adäquates Material gäbe. (Ich sehe, ertaste,
höre, rieche und schmecke das Fleisch, ohne daß ich es tat-
sächlich verschlingen kann.)

(Vergleiche dazu: Viliem Flusser: Vom Virtuellen. In: Florian
Rötzer, Peter Weibel (Hrsg): Cyberspace. Zum medialen
Gesamtkunst-werk. München 1993, S. 65 ff.)

Darunter liegt Homukulus, der allgemeine
körperlich-szenische Entwurf menschlichen
Lebens auf Dauer mit ganz konkreten, je hi-
storischen Vorstellungen über eine neue Leib-
lichkeit im alltäglichen Dasein. Ideal erhöht
oder kompensiert werden die Teile des
Mensch-Seins, verfügbar im Elementaren
(Atome oder Gene), zu Bestandteilen einer
Strategie der Überlistung physischer Grenzen:
-Technik am menschlichen Innen-Leib
(Medizin, Bio-Forschung,
Gen-Bearbeitung),

- Technik am menschlichen Außen-Leib

(Krücken, Lebensmittel,
materielle Umwelt),

- Technik an der menschlichen Innen-Seele

(Religion, Mystik, Märchen),

- Technik an der menschlichen Außen-Seele

(Lupe, Fernrohr, Buch, Foto,

Film, TV, Computer).

Genetische Anpassung des Innen-Leibes
und seiner Verhaltensprogramme an das
Homukulus-Schema der Dauer (Mikrobiolo-
gen halten es für möglich, daß Menschen
mehrere hundert Jahre alt werden können),
Implantation des Außen-Leibes in den Innen-
Leib vermittels Nano-Techniken** künstlich-
menschliche Innen-Seelen in Außen-Leibern
(künstlich-intelligente Roboter) und virtuel-
le Welten als Elemente der Innenseele in der
Außenseele:

das ist das Szenarium von Entwicklung, in
dem wir uns als Akteure wiederfinden.

**"Der Verlust, oder genauer gesagt: der Untergang des
Realraumes jeder (physischen oder geografischen) Ausdeh-
nung zugunsten ausschließlich der Abwesenheit eines zeit-
lichen Intervalls der Technologien der Real- und Echtzeit
führt unweigerlich dazu, daß sowohl die Technik als auch
die Mikro-Maschinen in das Innere der Organe von Lebewe-
sen eindringen."

(Paul Virilio: Vom Übermensch zum überreizten Mensch. In:
Living 6. Jahrg.,1/1993, ßraunschweig, S. 48.

Das bedeutet das Ende der relativen Geschwindigkeit und
das Primat der absoluten Geschwindigkeit elektromagneti-
scher Bewegung und das Ende des ontologischen Privilegs
des eigenen Körpers, wobei die Stimulierung der Nerven-
funktionen im Zentrum stehen.

Damit, so Virilio, löst die Gestaltung nervlicher Reaktionen
das Design der Konsumobjekte ab.

Um Fachleute der sinnlichen Wahrnehmung gestalteter
Umwelt zu bleiben, müssen sich die Designer im Zuge die-
ser Entwicklung völlig neue Methoden und Instrumente er-
schließen. Freilich ist es kaum vorstellbar, daß der so voll-
implantierte neue Mensch nicht mehr auf Stühlen sitzt und
sich nur noch virtuell statt auf Straßen und Autobahnen
bewegt.

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