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Hochschule für Industrielle Formgestaltung [Hrsg.]
Designtheoretisches Kolloquium — 16.1995

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Funke, Rainer: Cyberspace versus Homukulus? Beginnt das Problem im Virtuellen?
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https://doi.org/10.11588/diglit.31840#0055

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Rainer Funke

Cyberspace versus Homukulus?
Beginnt das Problem
im Virtuellen?

Unsere patriarchalische Furcht vor der Auflö-
sung der linearen Netze in den Wogen des
Universums, die postnatale Erstickungsangst
allem Fließenden gegenüber aus der Erfah-
rung der schmerzvollen Überwindung des
Flüssigen als Existenzmedium richtet sich von
Anbeginn an auch auf die Dauerhaftigkeit
unseres Leibes und unserer Seele.

Den Ansturm von Blut und Fleisch, von Liebe
und Sehnsucht gilt es in Häute zu füllen und
mit stabilen Grenzen einer Versicherung zu-
zuführen.

Die mühsame Arbeit um Strukturen und Sy-
steme, um Sicht- und Begreifbarkeit war von
jedem Anfang her auch ein Anatomisieren
nicht nur von Welt, auch von lch. Struktur-
lesendes Verstehen und Struktur-generieren-
des Projizieren als zubereitendes Hantieren
mit geschlossenen Einheitlichkeiten in sich
schöpft verläßliche Stringenz und überper-
sonale Verbindlichkeit in der Betrachtung
unserer selbst und derer, die um uns sind.

Auf der Wanderung zum (sich je Schritt ver-
schiebenden) Horizont sind wir Mittelpunkt
des Universums. Schritt für Schritt erfahren
wir die Zweckmäßigkeit unseres Tuns - einen
Fuß vor den anderen setzend.

Von Zweck zu Zweck wird unser Selbst stabil
und handlich. Auch dann noch, wenn wir den
Anderen erkennen und nun wissen: auch er
ist ein Wesen im Mittelpunkt seiner Hori-
zonte.

Die Projektion des Ich-Seins der Anderen für
mich, meine Projektion des festen Leib-und
Seele-Bildes auf den Anderen ist die Grund-
lage für den Zweifel an meiner Dauer, denn
ich sehe das Ende seiner Dauer. Gleichzeitig
ermöglicht diese Projektion den zupackend-
vernünftigen Blick auf nun neue strukturell-
gliedernde Gegebenheiten meines Leib-
Seele-Seins.

Meine Seele, Unendlichkeit unterstellend,
erfährt den existentiellen Zweifel aus dem
projektiven Blick auf die Endlichkeit des Lei-
bes des Anderen. Dergestaltige Leiblichkeit,
die Unendlichkeit nur in der unbegrenzten
Streckung des Erlebnisses im Augenblick ver-
heißt, gebiert die Verlustangst einer mehr
und mehr sich ungewissen Seele. Von Projek-
tion zu Projektion wächst die Wahrnehmung
des Selbst-Seins der Anderen und schrumpft
die Gewißheit der eigenen Mittelpunkt-
stellung.

Mit jedem Namen bestätigen wir das Eigen-
Sein des Anderen, mit jeder Aussage bauen
wireine Ethikvon Mensch-zu-Mensch-Sein in
der Welt.

Auf diesem Wege erscheinen Dauer und Mit-
telpunkt als Überwindung dieses Leib-Seins.

Seit dem ersten Faustkeil arbeiten wir nun
an dieser Überwindung:

Homukulus versus Ich-Projektion.

Der künstliche Mensch als dynamisches Kon-
strukt zur Erlangung von Unendlichkeit hat
von Anbeginn her zwei Komponenten: exi-
stentielle Vergewisserung unseres Daseins in
der Welt und reale Überlebens- und Genuß-
hilfe.

Der neue Leib, der neue Mensch als Kreation
der Beseeltheit unseres ursprünglichen Da-
seins überwindet den Schreck der Ich-Projek-
tion.

Demgemäß ist unsere Natur von Anfang an
eine künstliche, je von uns seibst geschaffen.
Projektionsangst und Bedürfigkeit aus den
Überlebensanforderungen sind korrealiv zu-
sammengestellt und bedingen sich gegensei-
tig in einem sich fortlaufend beschleunigen-
den Prozeß.

Nur in der Künstlichkeit unseres Lebenspro-
zesses finden wir die adäquate Existenzweise
in Bezug auf die Todesgewißheit und Todes-
angst, die uns als Menschen in der Folge auf
ein Ich-Bewußtsein von anderen Lebensfor-
men unterscheidet. Mystizismus und Religi-
on auf der einen Seite und Technik, vor al-
lem Medizin, auf der anderen Seite bieten
aIItäglich-greifbare existentielle Bezüge die-
ser Art.

So gesehen ist die Skepsis der vergegen-
ständlichenden Modernisierung des Lebens
gegenüber eine allgemeine Skepsis in Hin-
sicht auf die künstliche Natur des Menschen,

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