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Hochschule für Industrielle Formgestaltung [Hrsg.]
Designtheoretisches Kolloquium — 16.1995

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Bergius, Hanne: Ästhetische Imaginationen zum künstlichen Menschen
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https://doi.org/10.11588/diglit.31840#0013

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Hanne Bergius

Ästhetische Imaginationen zum
künstlichen Menschen

Der künstliche Mensch belebt seit alters her
das Imaginationsinventar der Kulturgeschich-
te. Die menschliche Natur durch synthetische
Vitalisierung nachzuahmen und ihre Unzu-
länglichkeit zu ersetzen, zu übertreffen, ja
das menschliche Leben neu zu erschaffen,
reiner, stärker und unverletzlicher, das bedeu-
tete eine große schöpferische Herausforde-
rung. So sehr auch dieses Streben die Kultu-
ren und die Epochen untereinander verband,
so sehr waren doch die einzelnen erreichten
Erfolge an die jeweiligen zeit- und gesell-
schaftsbedingten Möglichkeiten gebunden;
die künstlichen Mensch-Konstrukte waren
Spiegel ihrer Epochen: ihrer Wünsche und
Ängste, ihrer Euphorien und Allmachts-
phantasien wie vor allem ihrer technischen
Errungenschaften und Entwicklungen - ge-
stern nicht anders als heute. Dieser Vortrag
beleuchtet daher diese Zusammenhänge, ins-
besondere die Entwicklung der Wahrneh-
mung und ihre Erweiterung und Verfeine-
rung durch prothetische Apparaturen - von
der Metaphernmaschine im Manierismus
über den Fotoapparat bis zur Simulations-
maschinerie der Jetztzeit. Dabei wird insge-
samt offenbar, daß sich dieser Prozeß der
Verkünstlichung im Laufe der Geschichte
quantitativ und qualitativ grundlegend ver-
ändert und verlagert: aus der Welt elitärer
Experimente von Königen, Gelehrten, Künst-
lern mit einer bewußt begrenzt gehaltenen
Einflußwirkung hin zu einer offenen Welt-
und Mediengesellschaft.

1. Anfänge der Androidenkultur

Die Anfänge der Androidenkultur entstanden
auf der Grundlage ausgeprägter theoreti-
scher und praktischer Kenntnisse in Geome-
trie, Mathematik, Hydraulik und Pneumatik
in den Ländern, die diese Wissenschaften
schon früh ausbildeten - im alten Ägypten,
im Griechenland der Antike, in den alten ara-

bischen Reichen, dem alten China und dem
frühen Indien.

Verwoben waren die Berichte über künstli-
che Wesen oft mit Schöpfungsmythen. (1)
Man wollte den Göttern nicht nur das Ge-
heimnis entreißen, wie man den Menschen
erschafft, sondern auch das Privileg gewin-
nen, über ihn beliebig zu verfügen.

Die griechische Antike erzählt beispielswei-
se, daß der von Hephaistos aus Bronze ge-
schmiedete Talos dem kretischen König Minos
nicht nur als Wächter zu Diensten war, son-
dern sogar die Fähigkeit hatte, sich so glü-
hend heiß zu machen, daß er Angreifer mit
der Glut seiner Umarmung töten konnte.
Hephaistos hatte sich sogar Gehilfinnen aus
Gold geschaffen, die die schwierigsten Arbei-
ten in seiner Schmiede verrichten konnten
und selbst der Sprache mächtig waren. Die
Faszination belebter Puppen, die unterschied-
lichste Wirkungen hervorriefen - von spiele-
rischer Unterhaltung bis zu verehrender An-
betung -, veranlaßte König Minos auch noch
einen anderen Kunsthandwerker, nämlich
Daidalos, zu beschäftigen, und über König
Pygmalion wird berichtet, daß unter seinen
Händen eine Gestalt der Göttin Aphrodite aus
Elfenbein entstand, in die er sich derart ver-
liebte, daß die Göttin sie auf seine Bitten hin,
zum Leben erweckte. (2)

Mit einem Nimbus des Geheimnisvollen wa-
ren auch die alchemistischen Erzeugungen
des europäischen Mittelalters umgeben, de-
ren Quellen auf ägyptisch-hellenistisches, sy-
risches, arabisches und byzantinisches
Geheimwissen zurückreichen. Die Alchemie
versuchte das „große Mysterium", das ewige
Leben zu gewinnen. Die Erschaffung des un-
sterblichen Homunkulus, des künstlich er-
zeugten Menschen, ging aus einem Prozeß
des Reinigens, Klärens, des Aufhellens, der
Läuterung hervor, der eine allgemeine Um-
wandlung aller Dinge in eine göttliche und
unvergängliche Substanz anstrebte. In seiner
Schrift „De generatione rerum naturalium"
(um 1530) (3) behandelte Paracelsus das
Wachstum solcher Homunkuli; dabei bildeten
Blut, Urin und Sperma als die prima materia
die Träger des Seelenstoffes. „Wir werden
sein wie Gott", behauptete er. „Wir werden
Gottes größtes Wunder wiederholen - die
Erschaffung des Menschen."

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