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Hochschule für Industrielle Formgestaltung [Hrsg.]
Designtheoretisches Kolloquium — 16.1995

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Maser, Siegfried: Zur Entwicklung des Spiegels und der Spiegel-Metapher von der ägyptischen Antike bis zur virtuellen Realität
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https://doi.org/10.11588/diglit.31840#0121

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Siegfried Maser

Zur Entwicklung des Spiegels
und der Spiegel-Metapher
von der ägyptischen Antike bis
zur virtuellen Realität.

Spiegel (Bild 1. Die gezeigten Bilder sind
nicht mit abgedruckt. Eine Quellenangabe /
Bildernachweis ist als Anhang beigefügt !)
sind Vorrichtungen, die auffallendes Licht
reflektieren und dadurch - nach den Reflex -
ionsgesetzen (Bild 2) - von den realen Din-
gen virtuelle Bilder erzeugen, bei denen
rechts und links sowie vorne und hinten
vertauscht sind. Durch erneute Spiegelung
solcher Spiegelbilder können diese Vertau-
schungen jedoch wieder korrigiert werden.
Die Reflexionsgesetze können dabei als
Projektionsgesetze interpretiert werden.
Ebene Spiegel liefern Bilder gleicher Größe,
gekrümmte Spiegel vergrößern oder verklei-
nern und verzerren.

Von realen Dingen erzeugt ein Spiegel also
virtuelle Bilder: Real meint dabei wirklich,
tatsächlich, faktisch, vorhanden, existent,
bestehend, gegenständlich, konkret, sach-
lich, dinglich, stofflich, de facto. Virtuell
meint dagegen irreal, möglich, geistig,
scheinbar, zum Schein, imaginär, illusionär,
unrealistisch, idealistisch, gedanklich, einge-
bildet, phantastisch, pro forma.

Im Spiegel berühren sich also Realität und
Virtualität, Wirklichkeit und lllusion, Fakti-
sches und Scheinbares: Der Spiegel ist somit
eine faszinierende, weil rätselhafte Schnitt-
stelle und er ist es in der Geschichte der
Menschen schon immer gewesen. Zahlreiche
Mythen, Märchen, symbolische Bedeutun-
gen, Kunstwerke,Erfindungen und Meta-
phern zeugen davon: Wenn wir Menschen
die Welt wahrnehmen und erkennen, so
entsteht in unserem Bewußtsein (= „Spie-
gel") ein (virtuelles) Spiegelbild der wirkli-
chen Welt (Spiegel-Metapher !).

Es scheint so, daß dort, wo wir heute von
virtueller Realität (Bild 3) sprechen,
einerseits ähnliche Phänomene vorliegen,
andererseits gibt es jedoch auch wesentliche
Unterschiede: Beispielsweise liegt keine Be-
schränkung mehr auf Sichtbares, auf Visuel-
les wie beim Spiegel vor, sondern andere
Sinneswahrnehmungen werden mit einbezo-
gen (Vgl. dazu etwa „Architexture", gezeigt
auf der Ars Electronica 1994 in Linz: „Pneu-
matische Spiegelbilder". Siehe H. J. Drott,
1995, S. 360 ff.), ferner scheint das ursprüng-
liche „Berühren" des Realen mit dem Virtu-
ellen an der Schnittstelle Spiegel in ein
miteinander Vermischen überzugehen und
schließlich wird uns nicht nur Gegenwärtiges,
sondern auch Vergangenes und Zukünftiges
vorgespiegelt. Um Gemeinsamkeiten und Un-
terschiede zu verdeutlichen, sollen im folgen-
den einige Bemerkungen zur Entwicklung
des Spiegels und der Spiegel-Metapher
dargestellt werden, natürlich wesentlich ver-
einfacht und notwendigerweise lückenhaft.

Wahrscheinlich war es die natürliche Wasser-
oberfläche in der wir Menschen erstmals
unser eigenes Gesicht gespiegelt und damit
gesehen haben: Narziß verliebte sich be-
kanntlich in sein eigenes Spiegelbild, das er
in einer Quelle erblickte und verschmachte-
te in Sehnsucht danach. Mythologisch ist
daher der Spiegel einerseits ein Symbol für
die Untugend übertriebener Schönheit (Bild
4) und für die Verliebtheit in sich selbst (Nar-
zißmus); andererseits ein Symbol für die
menschliche Selbsterkenntnis (Bild 5):
Wenn wir jemandem einen Spiegel vorhal-
ten, glauben wir, daß dieser die Wahrheit
sagt, daß er Existentes bestätigt. So steht der
Spiegel in vielen Kulturen als Symbo! für
Wahrheit, für Selbsterkenntnis, für Weisheit
und für Verstand: Die menschliche Seele sei
ein „Spiegel des Universums". Das Spiegel-
bild selbst - beispielsweise im fließenden
Wasser - verkörpert jedoch die zeitliche und
damit vergängliche Welt der Erscheinun-
gen. Deshalb verhängt man auch heute noch
vorhandene Spiegel in Sterbezimmern, um
dem Toten das Verweilen auf Erden endgül-
tig zu verwehren. Wer im Spiegel kein Spie-
gelbild erzeugt, ist kein reales Wesen, für ihn
ist der Spiegel die Türe in eine andere, in sei-
ne Welt (vgl. dazu J. C. COOPER u.a.).

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