Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Hochschule für Industrielle Formgestaltung [Hrsg.]
Designtheoretisches Kolloquium — 16.1995

DOI Artikel:
Maser, Siegfried: Zur Entwicklung des Spiegels und der Spiegel-Metapher von der ägyptischen Antike bis zur virtuellen Realität
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31840#0122

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Auch bei unseren sog. „virtuellen Realitäten"
spielt die Symbolik um Wahrheit und Selbst-
erkenntnis und um die vergängliche Welt der
Erscheinungen eine wichtige Rolle.

Neben den natürlichen Spiegelflächen haben
wir Menschen schon früh künstliche Spie-
gel hergestellt: In der Bronzezeit bereits po-
lierte Metallplatten. Metallene Scheiben mit
Griffen wurden in ägyptischen Gräbern ge-
funden. In Griechenland gab es seit etwa dem
7. Jahrhundert v. Chr. Handspiegel, Stand-
spiegel und Klappspiegel. EUKLID kannte den
Brennspiegel; ARCHIMEDES die Spiegelwaffe,
mit der angeblich die Armada von Marcellus
vor Syrakus vernichtet wurde (BILD 6). Die
Römer kannten bereits den Glasspiegel. Im
Mittelalter entstehen die „Nürnberger Spie-
gel", in Venedig die Kristallspiegel. Die
katoptrischen Möbel und Museen (BILD 7) mit
ihren Vervielfachungsinstallationen und Me-
tamorphosen-Apparaten (BILD 8) dienen
zunächst der Belustigung durch zauber-
künstlerischen Darbietungen. (Das erinnert
ein wenig an den heutigen Entwicklungs-
stand der virtuellen Realitäten - aber auch
die Holografie hat dieses Stadium durch
laufen !) Im 16. Jahrhundert setzt sich der
Planspiegel durch und findet vielseitige An-
wendungen, auch in der Architektur. Im Ba-
rock und Rokoko entstehen Spiegelsäle und
Spiegelkabinette.

Heute gehören Spiegel in jedes Badezimmer,
in jede Handtasche, in jedes Auto; große Pa-
rabolspiegel produzieren Temperaturen bis
zu 3.500° C (vgl. dazu Jurgis BALTRUSAITIS).

Auch in der bildenden Kunst spielt der Spie-
gel als Motiv eine vielfältige Rolle. Ich erin-
nere an Jan van Eyck: Vermählungsbild des
Giovanni Arnolfini (Bild 9), an Hans Baldung
Grien: Der Tod und die drei Alter der Frau
(Bild 10); an Jacopo Tintoretto: Susanna im
Bade (Bild 11); an Rene Magritte: Die verbo-
tene Wiedergabe (Bild 12 a- c); aber auch an
Ernst Ludwig Kirchner, an Corinth, an Picas-
so (Bild 13 a + b), an Escher (Bild14a-c)und
viele andere. Der Spiegel als Offenbarer, als
Symbol für Wahrheit, Schönheit, Anmut; der
Spiegel als Komplize, als Symbol der Selbst-
erkenntnis; der Spiegel als Symbol der Ver-
bundenheit; der Spiegel als Lügner, als
Symbol der Irritation; der Spiegel als Hilfs-

mittel zur Separierung, zur Raumkomplet-
tierung, zur Raumerweiterung und zur Zer-
störung und schließlich als Vorbild für
Malerei überhaupt: ALBERTI (um 1401 bis
1472), der große Baumeister und Kunst-
theoretiker der italienischen Renaissance,
war der Meinung, daß der Spiegel der erste
Künstler gewesen sei, zumindest den Anfang
der darstellenden Künste bedeute, denn er
bilde ab! (vgl. dazu Barbara SALBERG-
STEINHARDT). Auch die virtuellen Realitäten
zählen, wenn überhaupt zu den Künsten,
dann zu den darstellenden Künsten.

Das Abbilden bzw. das Abbild ist von jeher
ein zentraler Begriff in der Wahrnehmungs-
und Erkenntnistheorie. In einer zunächst
naiven Form - wie sie auch heute noch in
unserem alltäglichen Leben oft verstanden
wird - wurde die Abbildtheorie (oder auch
Widerspiegelungstheorie) von DEMOKRIT
(460 - 371 v. Chr.) erstmals explizite formu-
liert: Nach seiner Auffassung bestehen alle
Dinge aus gleichartigen Grundbestandteilen,
den sog. Atomen. Diese unterscheiden sich
nur nach Größe, Schwere, Gestalt und Lage
und ordnen sich im leeren Raum zu den Din-
gen zusammen, Alles Werden und Vergehen
entspricht somit einem Mischen und Entmi-
schen. Wahrnehmung wird dadurch möglich,
daß sich von den Dingen fortwährend Bilder
ablösen, die über unsere Sinnesorgane in
unsere Seele eindringen. Dies erregt unsere
Seele und sie beginnt zu denken (vgl. Sche-
ma 1).

Übertragen wir diese naive Auffassung auf
unsere Informations- und Computerwelt

Bild 15), so ergibt sich folgendes: Alle Infor-
mationen bestehen aus gleichartigen Grund-
bestandteilen (Syntaktik), den sog. bits.
Diese unterscheiden sich nur nach Codier-
ungen (Bedeutungen, Semantik !) und
ordnen sich nach (syntaktischen und seman-
tischen) Regeln zu komplexen Botschaften
zusammen. Alle Informationsveränderungen
/ -verarbeitungen entsprechen somit einem
Mischen und Entmischen, einem Verändern
von Entropie bzw. Ektropie. Wahrneh-
mung wird für den Computer dadurch
möglich, daß er die bits mit seinen „Sinnes-
organen" (=Tastatur, Maus, Scanner etc.)
aufnimmt in seine „Seele" (=Rechner). Dies
„erregt" (=aktiviert) den Rechner und er

120
 
Annotationen