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Hochschule für Industrielle Formgestaltung [Editor]
Designtheoretisches Kolloquium — 16.1995

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Noack, Klaus-Peter: Die Wirklichkeit des Virtuellen
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https://doi.org/10.11588/diglit.31840#0155

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Klaus-Peter Noack

Die Wirklichkeit des
Virtuellen m

lch gebe zu, daß Präzision oft Sterilität zur
Folge hat.

Andererseits bringt auch die Vagheit ihre
eigene Sterilität mit sich -
es gibt eben keine goldene Regel
für den ,rechten' Betrieb der Wissenschaft.

Paul K. Feyerabend

Will man als Designphilosoph auf die Diskus-
sionen über Virtualität im Zusammenhang
mit der Anwendung moderner Computer-
technik reagieren, so steht man vor der Fra-
ge, ob man ein weitverbreitetes Spiel mitspie-
len oder dieses eher erklären, zumindest et-
was aufhellen sollte. Ich meine das medien-
wirksame Herumhantieren mit den Worten
„virtuell" und „Virtualität", deren Mehrdeu-
tigkeit es gestattet, unserer Leidenschaft für
das Paradoxe zu frönen und damit gleichzei-
tig einem alten Erfoigsrezept zu folgen: „Kei-
nen allzu deutlichen Vortrag haben. Die
meisten schätzen nicht, was sie verstehen,
was sie nicht fassen können, verehren sie ..."
(Gracians Handorakel, Aphorismus 253).

Auch mit der Mehrdeutigkeit von „wirklich"
und „Wirklichkeit" kann man spielen. Hinter
der leicht paradox klingen sollenden Über-
schrift „Die Wirklichkeit des Virtuellen" könn-
te man u. a. auch eine Antwort auf die Frage
vermuten, inwieweit das, was gegenwärtig
über das Virtuelle erzählt wird, wahr ist, oder
ob es sich in Wirklichkeit anders verhält, das
Gerede also nicht oder nicht ganz zutreffend
ist. In dieser Interpretation würden die Wor-
te „wirklich" und „Wirklichkeit" in dem Kon-
text verwendet, in dem es um die Genauig-
keit von Darstellungen geht. Eine ganze Rei-
he deutscher Philosophen (z. B. Schopenhau-
er und Marx) verwenden „wirklich" jedoch
auch im Sinne von ,wirkungsfähig'. So ver-
standen, könnte sich der Satz „die Virtuali-
tät ist wirklich" darauf beziehen, daß mit di-
gitaler Technik erzeugte Schein auf den User
wirkt, d. h. eine Veränderung seines Befin-
dens oder Verhaltens bewirkt; möglicherwei-

se wird ihm schlecht und er muß sich überge-
ben.

Wenn schon gefragt wird, wie wirklich ist die
Wirklichkeit, dann kann man erst recht fra-
gen, wie virtuell die Virtualität ist. Als Lieb-
haber von Paradoxien muß ich antworten:
Nicht nur daß viele meinen, die Wirklichkeit
sei gar nicht wirklich, die Virtualität ist nach
meiner Auffassung großteils nichteinmal vir-
tuell.

Nun mache ich etwas, das in einem weltmän-
nischen Gespräch eine Geschmacklosigkeit
darstellt, ich erläutere die Konstruktion der
Paradoxie und bringe sie damit, samt ihres
Charmes, zum Verschwinden: „Virtuell" ver-
stehe ich im Sinne von möglich, „Virtualität"
dagegen als das, was heute über die Erleb-
nisse erzählt wird, die digitale lllusions-
maschinen den Usern verschaffen können;
sagen wir mal, einen Tag als Hummer zu ver-
bringen. Ich könnte in diesem Sinne sagen,
ein großer Teil der Virtualität ist gar nicht vir-
tuell, weil ich damit nur feststelle, daß da,
wie in der Science-fiction Literatur, eine gan-
ze Menge Nonsens erzählt wird.

Um zu erleben, wie das ist, ein Hummer zu
sein, müßte ich zuvor aufhören, ein Mensch
zu sein, und vergessen, je einer gewesen zu
sein. Falls es irgendwie gelänge, die vollstän-
dige lllusion zu erzeugen, man hätte einen
Hummerkörper, bekäme man ähnliche Pro-
bleme wie Gregor Samsa nach seiner Ver-
wandlung. Das sind aber nicht die Probleme,
mit denen ein Hummer zu tun hat. Besten-
falls kann man doch herausfinden, wie es ist,
als Mensch, mitseinem menschlichen Körper,
scheinbar einen Hummerbewegungsapparat
von innen zu bewegen. Auch das sind nicht
die Erlebnisse eines Hummers. Also ist das
Gerede über unbegrenzte Erlebnismög-
lichkeiten, beliebigen Identitätswechsel usw.
von vornherein als Nonsens einzustufen; die-
se Arten phantasierter Virtualitäten sind also
nicht virtuell, da unmöglich.

Überhaupt istfestzustellen, daß ein sehrgros-
ser Teil des gegenwärtigen Geredes über vir-
tuelle Realität, virtuelles und Virtualität un-
ter „Hype" abgebucht werden sollte. Gleich-
gültig ob euphorisch, letztlich technikfe-
tischistisch, neofuturistisch betrachtet - vir-
tuelle Realität als allerneuste blaue Blume

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