Immanuel Chi
Virtualität-Realität-Materialität
Als der Leiter des 1816 in Kopenhagen neu
gegründeten Museums für nordische Alter-
tümer C. Th. Thomsen vor die Aufgabe ge-
stellt war die Museumsbestände systematisch
zu ordnen, wählte ereine Einteilung der Vor-
geschichte, die auch heute noch Gültigkeit
besitzt: er ordnete die Artefakte nach Mate-
rialien und unterschied danach Steinzeit,
Bronzezeit und Eisenzeit (Dreiperioden-
system der Vorgeschichte).
Die spezifische stoffliche Beschaffenheit dien-
te ihm als Anhaltspunkt für die Klassifikati-
on unterschiedlicher Kulturepochen.
Im Folgenden soll der Blick auf immaterielle
Artefakte in virtuellen Räumen gerichtet und
diese in Bezug auf mögliche MateriaIisier-
barkeit betrachtet werden. Materialität dient
dabei als Bindungsmodell zwischen virtuell
Dargestelltem und real Existentem.
Die unterschiedlichen Repräsentationsformen
von Materialität in virtuellen Medien- damit
meine ich Referenzen, die virtuelle Darstel-
lungen hinsichtlich eines realen oder realisier-
baren Objektes aufweisen- möchte ich zur
Einteilung in unterschiedliche Erscheinungs-
klassen von Virtualität verwenden.
Dazu soll den Fragen nachgegangen werden
welche Darstellungsstruktur virtuelle Darstel-
lungen besitzen und welche Referenzen zwi-
schen Dargestelltem und realer MateriaIität
bestehen.
Materialität und Virtualität, das scheinen zu-
nächst einander entgegengesetzte Begriffe
zu sein, da das Virtuelle gemeinhin mit nicht
-materieller Existenz assoziiert wird, oder es,
wie der VR-Pionier Jaron Lanier formuliert:
„nur als elektronische Darstellung existiert
und keine andere konkrete Existenz be-
sitzt." 1
In der Optik wird der Begriff Virtualität bei-
spielsweise zur Beschreibung von Bildern ver-
wendet, die ein Spiegel erzeugt.
Um spiegelbildliche Darstellungen zu erhal-
ten sind sowohl ein Spiegel als auch abzubil-
dende Objekte erforderlich.
Das im Spiegel abgebildete Objekt unter-
scheidet sich zwar vom real-materiellen -es
ist spiegelsymmetrisch- wird aber vom ihm
eindeutig referenziert. Nach Entfernen des
materiellen Objektes vor dem Spiegel ver-
schwindet auch dessen virtuelles Spiegelbild.
Das spiegelbildlich erscheinende, virtuelle
Abbild ist direkt mit der materialen Realität
verknüpft, verhält sich ihr gegenüber passiv/
neutral und vermag keinen Unterschied zu
ihr auszudrücken.
Somit handelt es sich nach einer Bestimmung
von van den Boom hier nicht um eine „Dar-
stellung", da „kein Zeigen, keine Stellung-
nahme, keine Einstellung, kein Sinn"2 vermit-
telt werden können.
Laszlo Moholy-Nagy verwendete in seiner
„Grundlehre" am „Bauhaus" den Begriff des
„virtuellen Volumens"3 für den Erscheinungs-
zustand, den kinetische Plastiken bei der
Translation im Raum bilden. In diesem Fall
kann auch von einer „Darstellung" gespro-
chen werden, die in der Bewegung eines
Objektes besteht. Das dargestellte virtuelle
Volumen ist Resultat einer materiellen Form.
Diese wird durch Bewegung in eine andere,
als immateriell wahrgenommene Form trans-
formiert, wobei die materielle Form jedoch
konstituierender Bestandteil des Transfor-
mierungsprozesses bleibt.
Auch hier wird virtueller Raum durch materi-
elle Strukturen referenziert; Virtualität be-
zeichnet eine andere Erscheinungsform von
Materialität, erzeugt durch das schnelle Be-
wegen eines Objektes.
1 J. Lanier im Gespräch mit Adam Heilbrunn, in:
Daedalus-Die Erfindung der Gegenwart,
Basel/Frankfurt a.M. 1990, S. 63
2 van den Boom, Holger,
Digitaler Schein-oder: Der Wirklichkeitsverlust
ist kein wirklicher Verlust, in:
Rötzer, Florian (Hg.), Digitaler Schein,
Frankfurt a.M. 1991, S. 190
3 Moholy-Nagy, Laszlo,
Von Material zu Architektur,
Mainz 1968, S. 155
33
Virtualität-Realität-Materialität
Als der Leiter des 1816 in Kopenhagen neu
gegründeten Museums für nordische Alter-
tümer C. Th. Thomsen vor die Aufgabe ge-
stellt war die Museumsbestände systematisch
zu ordnen, wählte ereine Einteilung der Vor-
geschichte, die auch heute noch Gültigkeit
besitzt: er ordnete die Artefakte nach Mate-
rialien und unterschied danach Steinzeit,
Bronzezeit und Eisenzeit (Dreiperioden-
system der Vorgeschichte).
Die spezifische stoffliche Beschaffenheit dien-
te ihm als Anhaltspunkt für die Klassifikati-
on unterschiedlicher Kulturepochen.
Im Folgenden soll der Blick auf immaterielle
Artefakte in virtuellen Räumen gerichtet und
diese in Bezug auf mögliche MateriaIisier-
barkeit betrachtet werden. Materialität dient
dabei als Bindungsmodell zwischen virtuell
Dargestelltem und real Existentem.
Die unterschiedlichen Repräsentationsformen
von Materialität in virtuellen Medien- damit
meine ich Referenzen, die virtuelle Darstel-
lungen hinsichtlich eines realen oder realisier-
baren Objektes aufweisen- möchte ich zur
Einteilung in unterschiedliche Erscheinungs-
klassen von Virtualität verwenden.
Dazu soll den Fragen nachgegangen werden
welche Darstellungsstruktur virtuelle Darstel-
lungen besitzen und welche Referenzen zwi-
schen Dargestelltem und realer MateriaIität
bestehen.
Materialität und Virtualität, das scheinen zu-
nächst einander entgegengesetzte Begriffe
zu sein, da das Virtuelle gemeinhin mit nicht
-materieller Existenz assoziiert wird, oder es,
wie der VR-Pionier Jaron Lanier formuliert:
„nur als elektronische Darstellung existiert
und keine andere konkrete Existenz be-
sitzt." 1
In der Optik wird der Begriff Virtualität bei-
spielsweise zur Beschreibung von Bildern ver-
wendet, die ein Spiegel erzeugt.
Um spiegelbildliche Darstellungen zu erhal-
ten sind sowohl ein Spiegel als auch abzubil-
dende Objekte erforderlich.
Das im Spiegel abgebildete Objekt unter-
scheidet sich zwar vom real-materiellen -es
ist spiegelsymmetrisch- wird aber vom ihm
eindeutig referenziert. Nach Entfernen des
materiellen Objektes vor dem Spiegel ver-
schwindet auch dessen virtuelles Spiegelbild.
Das spiegelbildlich erscheinende, virtuelle
Abbild ist direkt mit der materialen Realität
verknüpft, verhält sich ihr gegenüber passiv/
neutral und vermag keinen Unterschied zu
ihr auszudrücken.
Somit handelt es sich nach einer Bestimmung
von van den Boom hier nicht um eine „Dar-
stellung", da „kein Zeigen, keine Stellung-
nahme, keine Einstellung, kein Sinn"2 vermit-
telt werden können.
Laszlo Moholy-Nagy verwendete in seiner
„Grundlehre" am „Bauhaus" den Begriff des
„virtuellen Volumens"3 für den Erscheinungs-
zustand, den kinetische Plastiken bei der
Translation im Raum bilden. In diesem Fall
kann auch von einer „Darstellung" gespro-
chen werden, die in der Bewegung eines
Objektes besteht. Das dargestellte virtuelle
Volumen ist Resultat einer materiellen Form.
Diese wird durch Bewegung in eine andere,
als immateriell wahrgenommene Form trans-
formiert, wobei die materielle Form jedoch
konstituierender Bestandteil des Transfor-
mierungsprozesses bleibt.
Auch hier wird virtueller Raum durch materi-
elle Strukturen referenziert; Virtualität be-
zeichnet eine andere Erscheinungsform von
Materialität, erzeugt durch das schnelle Be-
wegen eines Objektes.
1 J. Lanier im Gespräch mit Adam Heilbrunn, in:
Daedalus-Die Erfindung der Gegenwart,
Basel/Frankfurt a.M. 1990, S. 63
2 van den Boom, Holger,
Digitaler Schein-oder: Der Wirklichkeitsverlust
ist kein wirklicher Verlust, in:
Rötzer, Florian (Hg.), Digitaler Schein,
Frankfurt a.M. 1991, S. 190
3 Moholy-Nagy, Laszlo,
Von Material zu Architektur,
Mainz 1968, S. 155
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