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Hochschule für Industrielle Formgestaltung [Hrsg.]
Designtheoretisches Kolloquium — 16.1995

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Welsch, Wolfgang: Immaterialisierung und Rematerialisierung: Zu den Aufgaben des Design in einer Welt der elektronischen Medien
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https://doi.org/10.11588/diglit.31840#0231

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Wolfgang Welsch

Immaterialisierung und
Rematerialisierung
Zu den Aufgaben des Design
in einer Welt der
elektronischen Medien

Vorüberlegungen

Die Menschen träumen vom Paradies. Dieser
Traum ist ein doppelter: rückwärts bezieht er
sich auf ein natürliches Paradies am Anbeginn
der Zeiten, vorwärts auf ein neues, künstli-
ches Paradies, das dereinst durch die mensch-
liche Geschichte erreicht werden soll. Hein-
rich von Kleist schrieb einmal, wir müßten ein
zweites Mal „von dem Baum der Erkenntnis
essen", um das Paradies wiederzugewinnen.O

Nun meinen manche Zeitgenossen, wir hät-
ten inzwischen so viel vom Baum der informa-
tionstechnologischen Erkenntnis gegessen,
daß wir längst dabei seien, in das neue Para-
dies einzutreten, das ein elektronisches Pa-
radies sei.

Marshall Mc Luhan, der große Theoretiker der
elektronischen Medien, sprach schon 1964
davon, daß die neuen Medien uns „das
Pfingstwunder weltweiter Verständigung
und Einheit" bringen würden J Fortan könn-
ten wir einander alle in der universellen Spra-
che der elektronischen Medien verstehen. Wir
gewännen damit den Zustand vor dem Turm-
bau zu Babel zurück - also, wenn nicht direkt
das Paradies, so doch einen vergleichsweise
paradiesischen Zustand.

Und um einen derzeit in den USA sehr renom-
mierten Freak der Artificial Intelligence zu
zitieren: Hans Moravec meint, wir sollten un-
ser Gehirn - durch „downloading" - auf eine
datenprozessierende Maschine übertragen,^
dadurch „könnte unser Denken vollständig
von jeder Spur unseres ursprünglichen Kör-
pers und überhaupt irgendeines Körpers be-
freit werden. Der so entstehende körperlose
Geist wäre [...] etwas Wunderbares im Hin-
blick auf die Klarheit seiner Gedanken und

die Tiefe seiner Einsicht".^

Ich könnte eine ganze Reihe solch euphori-
scher Äußerungen anführen. Aber ich will in
diesem Vortrag eher darlegen, warum ich
dieser Euphorie - oder genauer: ihrer Einsei-
tigkeit - mißtraue und warum ich nicht glau-
be, daß der Geist ohne den Körper zu seinem
vollen Glück kommen werde.

Ich gehe in drei Teilen vor. Zuerst will ich auf
einige Eigentümlichkeiten der elektronisch-
medialen Welten hinweisen; dann einige
Gegenakzente zu setzen; und schließlich über
die besonderen Aufgaben des Design in ei-
ner durch elektronische Medien geprägten
Welt sprechen.

I. Eigentümlichkeiten der elektronisch-
medialen Welten

Lassen Sie mich kurz einige Gründe der äs-
thetischen Faszination durch die elektronisch-
medialen Welten ansprechen. Sie reichen
über die - gleichermaßen erstaunlichen -funk-
tionalen Vorteile weit hinaus.

1. „Leichtigkeit des Seins"

Zu nennen sind in erster Linie Phänomene der
Leichtigkeit, der freien Beweglichkeit, des
freien Spiels mit Dimensionen und Gebilden.
Im elektronischen Raum scheinen die Körper
ihre Trägheit, Widerständigkeit und Massivi-
tät verioren zu haben. Sie sind leicht gewor-
den und vollführen bizarre und bezaubern-
de Bewegungen. Der elektronische Bildraum
hat etwas von der Schwerelosigkeit des
Raumschiffs. Alles hat das Flair des Virtuel-
len, es könnte auch anders sein oder werden.
Wenn es irgendwo eine „Leichtigkeit des
Seins" gibt, dann im elektronischen Raum. -
Die elektronischen Medien lösen damit alte
ästhetische Wünsche ein. Der Surrealismus
beispielsweise hat von solch freien Transfor-
mationen geträumt, sie aber nur ansatzwei-
se und vergleichsweise unbeholfen zu reali-
sieren vermocht. Wie perfekt hätte Yves
Tanguy mit dem heutigen elektronischen
Equipment seinen Visionen Gestalt verleihen
können!

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