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Hochschule für Industrielle Formgestaltung [Hrsg.]
Designtheoretisches Kolloquium — 16.1995

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Welsch, Wolfgang: Immaterialisierung und Rematerialisierung: Zu den Aufgaben des Design in einer Welt der elektronischen Medien
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https://doi.org/10.11588/diglit.31840#0232

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2. Unabsehbare Weitläufigkeit

Ein weiterer Zug: Die elektronische Welt zeigt
eine der Dingwelt unbekannte Offenheit für
Veränderungen, Mutationen und Innovatio-
nen. Man kann Dateien - die Gegenstände
dieser elektronischen Welt - verändern, kann
ihre Darstellungsweise modifizieren, kann sie
mit anderen Dateien kreuzen, ja man kann
Dateien selbsttätig miteinander komrrrunizie-
ren und neue, hybride Dateien erzeugen las-
sen. Denken Sie an Hyper-Text. Die elektro-
nische Welt ist eine unendlich weite Welt von
lateralen Anschlüssen und Ausbreitungen,
Kreuzungen und Vernetzungen, Wucherun-
gen und Transformationen.

3. Kategorienwechse!

Das faszinierend Neuartige dieser Welten hat
zur Konsequenz, daß ihnen mit unseren ge-
wohnten, für die Dingwelt entwickelten Ka-
tegorien nicht mehr beizukommen ist. Auf
diese Kategorien gestützt, würde man die
elektronische Welt allenfalls mißverstehen
oder verzeichnen.

Interessanterweise hat die Erfahrung der
Medien denn auch in der Philosophie zur
Entwicklung neuer Konzeptionen geführt.
Derrida und Deleuze beispielsweise sprechen
seit den späten sechziger Jahren davon, daß
Wirklichkeit und Sinn durch Übergängigkeit,
Vernetzungsketten, ständige Verschiebungen
und prinzipielle Unabschließbarkeit gekenn-
zeichnet sind.4 Sie wurden dazu durch die
neuen Medien inspiriert und gelangten so zu
einer einschneidenden Kritik der traditionel-
len Philosophie bzw. Metaphysik.5 Diese hat-
te stets auf das Ideal eines reinen, mediums-
freien Sinns gesetzt, während Sinn in Wahr-
heit - wie diese neueren Theorien uns lehren
- immer durch ein Medium (sei es mündlich,
schriftlich oder elektronisch) konstituiert ist,
ohne ein solches gar nicht existieren könn-
teß

4. Neuere Entwicklungen

In den neueren Entwicklungen, die durch
Stichworte wie Multimedia, Internet, Cyber-
space, World Wide Web und Virtual Commu-
nities bezeichnet sind, setzen sich die Züge
der Leichtigkeit, Transformierbarkeit, Hyper-

geschwindigkeit und Virtualität fort. Zum
andern kommt es aber auch zu einer Art
Quantensprung und zur Ermöglichung neu-
er Kulturtechniken. Insbesondere die Inter-
aktivität bietet neuartige Chancen von Kom-
munikation und Individualisierung zugleich
- völlig anders als die hausbackene Kulturkri-
tik unterstellt, die diese Phänomenen ab-
lehnt, ohne sie überhaupt aus praktischer
Erfahrung zu kennen7

II. Rückwirkungen der elektronischen
Welten auf die Alltagswelt

Statt diesen Entwicklungen detailliert nach-
zugehen, will ich nun aber auf die andere
Seite blicken und Rückwirkungen der media-
len Welten auf Erfahrungsformen der nicht-
medialen Welt bedenken. Wie verändert der
Einfluß der elektronischen Welten unser a11-
tägliches Wirklichkeitsverständnis und unse-
re tägliche Welterfahrung?

Manche sagen, durch das Hinzutreten der
Künstlichen Welten werde unsere Erfahrung
ganz einfach weiter und reicher. Aber wer so
spricht, übersieht, daß der Hinzutritt von
Neuem das Alte immer auch verändert.

Die Veränderungen sind heute hauptsächlich
zweifacher Art. Erstens kommt es zu einer
Virtualisierung bzw. Derealisierung unseres
Wirklichkeitsverständnisses. Und zweitens
kommt es - komplementär dazu - zu einer
Neubewertung, zu einer Revalidierung nicht-
elektronischer Wirklichkeitserfahrungen, also
genau derjenigen Erfahrungen, die man mit-
tels der elektronischen Medien nicht machen
kann.

1. Virtualisierung und Derealisierung

Zunächst zur Virtuaiisierung. Sie ergibt sich
daraus, daß die Gesetze der Medien zuneh-
mend auch die AlItagswirklichkeit durchdrin-
gen. Ich will dies unter vier Gesichtspunkten
darstellen.

a. Medienpräsentation als Echtheits-
siegel von Wirklichkeit

Erstens ist Medienpräsentation für die All-
tagsrealität zum Beglaubigungssiegel gewor-
den. Als vollends wirklich gilt nur, was gesen-

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