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Hochschule für Industrielle Formgestaltung [Hrsg.]
Designtheoretisches Kolloquium — 16.1995

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Engelbert, Arthur: Der virtuelle Augenaufschlag
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https://doi.org/10.11588/diglit.31840#0039

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Arthur Engelbert

Der virtuelle Augenaufschlag

Zur Vorgehensweise

Im folgenden werden Aspekte der Romantik
aus den Bereichen Philosohie, Technik und
Kunst, die gemeinhin getrennt voneinander
betrachtet werden, aufeinander bezogen
und in drei Abschnitten bis zur Gegenwart
verfolgt. Hierbei handelt es sich um Fragen
nach der Sichtbarmachung (Visualisierung),
nach dem Medium (Vermittlung) und nach
dem Verhältnis der Kunst zur Natur sowie
dem Verhältnis der Kunst zur Technik und zu
technologischen Prozessen. Ausgehend von
der Kunstphilosophie F. W. J. Schellings wer-
den zeitgleiche Aspekte technischer Bilder
und der romantischen Malerei um 1800 erör-
tert und in Beziehung gesetzt. Das ist der er-
ste Abschnitt. Dann folgt der zweite, der
Aspekte von Film und Malerei in den 20er
Jahren unseres Jahrhunderts beleuchtet, und
hieran schließt sich der dritte, der Aspekte
von „virtueller Realität (VR)" und land-
schaftsbezogener Kunst in den 80er Jahren
gegenübergestellt.

Herleitung des Themas

„Der virtuelle Augenaufschlag" ist eine Me-
tapher. Sie spielt auf eine romantische Auf-
fassung an, wonach die Künste in der Natur
sozusagen die Augen aufschlagen. Ich bin
nicht der Meinung, daß diese Metaphorik von
der Romantik ungebrochen auf die Gegen-
wart übertragbar ist, sondern zur Kritik der
vermeintlichen Entwicklungsschübe, die im
Verhältnis von Kunst, Natur und Technik ein-
geschrieben sind, herausfordert: Das Andere
der Wirklichkeit, der Realität ist sicherlich
nicht in der vermeintlichen „Virtualität" oder
im „Cyberspace" anzutreffen, sondern „im-
mer noch" in der Kunst, die eng mit der Na-
tur und der Technik verknüpft ist. Aber die-
ses „immer noch" ist nicht mehr selbstver-
ständlich herleitbar, weil die oben genann-
ten Domänen der Wirklichkeit in Bewegung
geraten sind. Dies wird in den nachfolgen-
den Ausführungen anhand der Kunst- und

Naturphilosophie von Schelling kurz entwik-
kelt. Beabsichtigt ist dabei eine bejahende,
aber kritische Distanz zu den gegenwärtigen
Ansichten von Theorie, Kunst und Technik,
zumal wenn sie sich in naiver, technologischer
Gläubigkeit - wie z.B. in „Virtualität" und in
„Cyberspace" - äußern und damit Probleme
- von z.B materiell und zeichenhaft beding-
ter Künstlichkeit - eher verunklären.

Thematische Voraussetzungen bei Schelling

"Welche Aussicht aber böte die jetzige Zeit
für eine aus frischem Kern und von der Wur-
zel aufwachsende Kunst?"^ So fragt Schel-
ling 1807 und führt aus:

„... das höchste Verhältnis der Kunst zur Na-
tur ist dadurch erreicht, daß sie diese zum
Medium macht, die Seele in ihr zu versicht-
baren."^

Zwischen Schellings Ideen der Sichtbar-
machung von Natur durch Kunst um 1800 und
beispielsweise Bill Gates Windows 95 liegen
immerhin fast zweihundert Jahre. Hundert
Jahre hatte es gedauert, bis die unbewußte
Seite der Natur und noch einmal fast hun-
dert Jahre, bis die „virtuelle" Seite der Kunst
durch das Technische verfüg- und steuerbar
wurde - und das dauert noch an. Schellings
„Schöpferideal" von Natur im Menschen gilt
es aufzuarbeiten (bis hin zum Technofuturis-
mus) und hierbei den bereits bei ihm vorweg-
genommenen Gedanken von der Selbst-
organisation der Systeme und der Konstruk-
tion von Wirklichkeit zu entwickeln, d.h.
überhaupt erst faßbar zu machen.

Zweierlei beinhaltet die Visualisierung, sprich
die implizite Metapher vom Augenaufschlag,
bei Schelling im engeren Sinne: Einmal ist in
der Metapher des Augenaufschlags ein Über-
gang angezeigt: Das Aufschlagen der Augen
deutet auf den Wachzustand, wahrscheinlich
auf das Anfängliche des Wachwerdens.^ Und
zum andern ist in der Metapher des Augen-
aufschlags ein „Knospenartiges-sich-öffnen"
der Natur angezeigt. Der zweite Aspekt be-
schreibt das Verhältnis von Kunst und Natur.
Beide sind miteinander verknüpft.^ Zwei Be-
reiche sind aufeinander bezogen: Der wache
Blick gilt der Kunst, der noch nicht wache der
Natur. Von dieser erfährt man also etwas
durch die Kunst. Mit anderen Worten: Die

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