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Hochschule für Industrielle Formgestaltung [Hrsg.]
Designtheoretisches Kolloquium — 16.1995

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Engelbert, Arthur: Der virtuelle Augenaufschlag
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https://doi.org/10.11588/diglit.31840#0040

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Kunst vermittelt.-’ Aus heutiger Sicht besteht
die Aufgabe der Kunst nicht allein in der Ver-
mittlung, die Kunst transformiert vielmehr
den Prozeß von Wirklichkeit, sei es z.B zwi-
schen der schlafenden, also einer noch unbe-
wußten Seite des Blicks mit einer wachen, also
einer schon bewußtwerdenden Seite des
Blicks.k Einerseits rangiert die Rolle, die die
Kunst hier einnimmt, über der der Natur. Das
ist die eine Seite in der Bestimmung. Ande-
rerseits legt die Natur fest, wie die Rolle der
Kunst beschaffen ist7 Das ist die zweite Sei-
te in der Bestimmung. Die Naturgibtvor, wie
sie durch die Kunst knospenartig das Licht der
Welt erblickt.^

Was zeichnet aber die andere Seite, die be-
wußte Seite des Blicks gegenüber der Natur
aus? Was solcherart in den Blick gerät, be-
schreibt Schelling wie folgt:

„Welche höhere Absicht könnte demnach die
Kunst auch haben, als das in der Natur in der
That Seyende darzustellen? oder wie sich
vornehmen, die sogenannte wirkliche Natur
zu übertreffen, da sie doch stets unter dieser
zurückbleiben müßte? Denn gibt sie etwa
ihren Werken das sinnlich-wirkliche Leben?
Diese Bildsäule athmet nicht, wird von kei-
nem Pulsschlag bewegt, von keinem Blute
erwärmt. Beides aber, jenes angebliche
Uebertreffen und dieses scheinbare Zurück-
bleiben, zeigt sich als Folge eines und dessel-
ben Princips, sobald wir nur die Absicht der
Kunst in die Darstellung des wahrhaft
Seyenden setzen. Nur auf der Oberfläche sind
ihre Werke scheinbar belebt: in der Natur
scheint das Leben tiefer zu dringen und sich
ganz mit dem Stoff zu vermählen."^

Damit ist ausgesprochen, was durch Kunst in
den Blick gerät: Oberflächen. Die Kunst ver-
mag es, Oberflächen von Dingen zu beleben.
Das darf man nicht mißverstehen und etwa
vermuten, die Kunst verlebendige die Dinge.
Nein, die Kunst lebt nur, widersprüchlich ge-
sagt, von der Künstlichkeit ihrer Oberflä-
chen. 11- 1 Es liegen also in der „oberflächlichen
Belebung", wie Schelling sagt, sowohl die
Wirkung als auch das Problem der Wirklich-
keit dieser Wirkung beschlossen. Denn wie
kann etwas „oberflächlich Belebtes" über-
haupt wirklich sein? Täuscht es nicht nur vor,
etwas Wirkliches zu sein? Ist es allenfalls nur
dem Anschein nach wirklich?

Die beiden letzten Fragen stellen sich in Be-
zug auf Kunst eigentlich immer und sind im
Laufe der Geschichte unterschiedlich beant-
wortet worden. In Bezug auf Schelling ergibt
sich folgende Antwort: Natürlich ist Kunst
echt, d.h. sie täuscht nicht, obwohl das vor-
kommen kann, wenn etwas verwechselt wird.
Warumjedoch die „oberflächliche Belebung"
wirklich ist, begründet sich durch die ihr inne-
wohnende Zeit. Denn die von Künstlern ge-
stalteten Oberflächen sind auf den menschli-
chen Körper bezogen, d.h. sie enthalten hi-
storische Zeit und benötigen Lebenszeit. Auch
wenn die materiellen Spuren der Kunstweke
altern, sind doch die gestalterischen Prinzipi-
en der „belebten Oberfläche" gleichblei-
bend. Demnach kann die Kunst die Natur
überdauern. Auch dazu möchte ich ein Zitat
von Schelling anführen:

„Hat nach der Bemerkung des trefflichen
Kenners ein jedes Gewächs der Natur nur ei-
nen Augenblick der wahren vollendeten
Schönheit, so dürfen wir sagen, daß es auch
nur Einen Augenblick des vollen Daseyns
habe. In diesem Augenblick ist es, was es in
der ganzen Ewigkeit ist: außer diesem kommt
ihm nur ein Werden und ein Vergehen zu.
Die Kunst, indem sie das Wesen in jenem
Augenblick darstellt, hebt es aus derZeit her-
aus; sie läßt es in seinem reinen Seyn, in der
Ewigkeit seines Lebens erscheinen."^

Es geht Schelling um die Darstellung des
fruchtbaren Augenblicks, den ich hier nicht
weiter auf Analogien des Einmaligen, des Er-
habenen verfolgen möchte. Worauf es mir
ankommt ist: Die Natur schlägt in der Kunst
sozusagen länger als nur einen Augenblick
lang die Augen auf.

Der Blick und der Blickende sind bislang noch
nicht zur Sprache gekommen. Was veranlaßt
den die Augen aufschlagenden, nach Schel-
ling, die Natur durch die Kunst zu erfahren?
Dazu Schelling:

„Schon längst ist eingesehen worden, daß in
der Kunst nicht alles mit dem Bewußtseyn
ausgerichtet wird, daß mit der bewußten
Thätigkeit eine bewußtlose Kraft sich verbin-
den muß... Werke, denen dieß Siegel bewußt-
loser Wissenschaft fehlt, werden durch den
fühlbaren Mangel an selbstständigem von
dem Hervorbringenden unabhängigen Leben

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