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Hochschule für Industrielle Formgestaltung [Hrsg.]
Designtheoretisches Kolloquium — 16.1995

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Chi, Immanuel: Virtualität - Realität - Materialität
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https://doi.org/10.11588/diglit.31840#0036

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Nun zu einer dritten Klasse von Virtualität,
die erhebliche Differenzen zu den beiden
bereits erwähnten Formen aufweist: der Vir-
tualität von Computer erzeugten Artefakten.
Im Gegensatz zu den oben erwähnten For-
men von Virtualität weist die Darstellung so-
genannter virtueller Realitäten im Medium
Computer bekanntlich keine Referenzen
mehr zu materialen Realitäten auf. Denn es
handelt sich hier um in Rechnern synthetisier-
te Gebilde, die im allgemeinen als immateri-
eli bezeichnet werden, da ihre Existenz an
energetische Potentiale gebunden bleibt.
Eine Analogie zu real Existentem wird dem
Betrachter ausschließlich über synthetisierte
Sinneseindrücke, primär Bilder, vermittelt.

Im Zusammenhang mit am Computer synthe-
tisierten Phänomenen zeichnet sich also der
Begriff „Virtualität", im Gegensatz zu den
bereits erwähnten Varianten, durch die kau-
sale Unabhängigkeit des Dargestellten von
jedweder Materialität aus.

Diese nicht vorhandene materiale Referenz
ist aber ebenso bei konventionell angefertig-
te Zeichnungen, zum Beispiel Konstruktions-
pläne und Renderings, gegeben, und auch
dieser Typ von Zeichnungen ist potentiell
materialisierbar.

Demnach ließe sich der Terminus „Virtuali-
tät" im Bereich der Gestaltung auf alle
projektiven Medien anwenden, die eine mög-
liche Mate-rialisierbarkeit vermitteln
Unter dem Thema dieses Kolloqiums -Virtua-
lität versus Realität, verstehe ich deshalb pri-
mär die Frage nach der potentiellen Realisier-
barkeit des Dargestellten, unabhängig vom
Medium der Darstellung. Bei dem von mir
gewählten Bindungsmodell an „Materialität"
fallen Realisierbarkeit und Materialisier-
barkeit zusammen.

Ich möchte nun eine Einteilung in vier Klas-
sen von, virtuellen Artefakten hinsichtlich
ihres Realisierungspotentials vornehmen, die
ich mit den Attributen „simulativ", „fiktiv",
„phantastisch" und „fingiert" beschreibe:

„Simulative Virtualität" ist die Abbildung
bereits bekannter materieller Gegenstände
oder Kausalzusammenhänge. Ein Flug-
simulator oder eine Moldflow-Studie sind
typische Beispiele simulierter, bereits existie-
render Realitäten. Auch „electronic cash"

stellt eine Analogie zu gängigen, bereits real
existierenden Kausalzusammenhängen dar
und transformiert diese lediglich simulativ in
ein anderes Medium.

Unter „fiktiver Virtualität" verstehe ich alle
Formen von Dargestelltem, die zwar über die
Sphäre des bereits materiell Bestehenden hin-
ausgehen, sich jedoch prinzipiell materialisie-
ren lassen, da sie nicht mit bestehenden Er-
kenntnissen kollidieren. Bei dem Redesign
eines Konsumgutes wäre dieses im Planungs-
und Gestaltungsprozeß, also vor seiner
Materialisierung,.existent als"fiktive Virtua-
lität."

Der Begriff der phantastischen Virtualität
beschreibt Formen von Dargestelltem, deren
prinzipielle Materialisierbarkeit zum Zeit-
punkt der Erstellung nicht eindeutig nach-
weisbar ist, die jedoch unter veränderten
Ausgangsbedingungen oder bei neuem Er-
kenntnisstand denkbar wären. Steven Spiel-
bergs „Jurassic Parc" operiert mit dieser phan-
tastischen Virtualität.

Denn es erscheint uns zwar als unwahrschein-
lich, nicht aber als gänzlich unmöglich, daß
ausgestorbene Dinosaurier der Urzeit durch
gentechnische Manipulationen und Nach-
züchtung wieder zum Bestandteil unserer
Lebenswelt gehören könnten.

Als „fingierte Virtualität" möchte ich Formen
von Dargestelltem beschreiben, die auf be-
reits nicht der materielen Realität entspre-
chenden Grundannahmen beruhen und auch
kein Realisierungspotential auf materieller
Ebene beinhalten wollen. Fingierte Formen
von Virtualität sind beispielsweise syntheti-
sche Darstellungen, die nicht in die materiel-
le Realität verlagerbare Wahrnehmungen
suggerieren.

Fingiert ist etwa das Übermitteln des Ein-
drucks, daß ein solider Körper, etwa ein Mar-
morblock, von einem Betrachter durchdrun-
gen werden kann.

Fingiertes suggeriert also eine nicht materia-
lisierbare Realität und aus diesem Grund wäre
zu überlegen, ob der Terminus des „Virtuel-
len" überhaupt dafür Anwendung finden
sollte.

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