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Hochschule für Industrielle Formgestaltung [Editor]
Designtheoretisches Kolloquium — 16.1995

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Noack, Klaus-Peter: Die Wirklichkeit des Virtuellen
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https://doi.org/10.11588/diglit.31840#0156

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oder dämonisierend als neuester Name für
einen schon vor etwa 20 Jahren in einem
genialen Witz festgestellten tödlichen onto-
logischen Virus. In beiden Fällen geht es statt
sachlicher Analyse um die Beschwörung ei-
nes Angstlust erzeugenden Faszinosums.

Diese Spiele erklären, heißt, sie zu sabotie-
ren; so dachte ich zunächst. Wie ich inzwi-
schen einsehen mußte, kann man sie auch
gleichzeitig, und zwar mit Erfolg, spielen und
erklären, man muß nur hinreichend naiv sein.
Ein Verzug, der unter Simulationsadepten
und Cyberspacepropheten aber weitverbrei-
tet ist.

Belegen wir das mit einigen Zitaten aus dem
Buch „Die Wirklichkeit der virtuellen Welt"
von Benjamin Wooley, das 1994 immerhin im
renommierten Birkhäuser Verlag erschien.
Wooley begründet dort seine Bevorzugung
des Ausdrucks „virtueller Speicher" gegen-
über dem Ausdruck „Paging" folgenderma-
ßen:

„,VirtuelI' war und bleibt ein viel großartige-
res Wort, das leider viel zu wenig genutzt
wird, ein riesiger semantischer Leerraum, der
nur darauf wartet, mit Bedeutung gefüllt zu
werden. Das hat die Arbeit mit dem Compu-
ter zum Teil fertiggebracht, wobei anfangs
diese Bedeutung recht bescheiden war, doch
erweist sich die Fracht ihrem Träger zuse-
hends würdiger" (S. 67).

Auf S. 70 schwingt er sich dann zu folgender
Erklärung von „virtuell" auf:

„,VirtuelI' als Fachausdruck weist einen be-
achtlichen Stammbaum auf; er reicht bis zu
den Ursprüngen der modernen Wissenschaft
zurück. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts be-
zeichnete die Optik damit das gebrochene
oder reflektierte Bild eines Gegenstands. Zu
Beginn des 19. Jahrhunderts schrieben die
Physiker von der ,virtuellen Geschwindigkeit'
und dem ,virtuellen Moment' einesTeilchens.
Das Wort wird in der Physik heute noch ver-
wendet, um das exotische Verhalten subato-
marer Teilchen zu beschreiben, die eine der-
art kurze ,Lebensdauer' haben, daß kein De-
tektor sie registrieren kann. Ein langer Weg
führt auf seinen Ursprung zurück; es war an-
fangs die Adjektivform des Wortes virtus (la-
teinisch Tugend), und damals bedeutete ,Tu-

gend' noch, Anteil an der göttlichen Macht
zu haben. Ein Nachhall dieserfrühen Bedeu-
tung klingt jedoch noch in den aufgeregten
Behauptungen der virtuellen Realisten nach,
sie hätten die Macht, ihre eigenen Welten zu
schaffen. Und es ist angemessen, daß in dem
Wort ein gewisses Maß an tieferer Bedeutung
mitschwingt, denn bei dem datentechnischen
Begriff .virtuell' geht es um weit mehr als um
bloße Technik. Er berührt den wissenschaftli-
chen Kern der Realität."

Der Hype um Virtualität bekennt sich hier
dazu Hype zu sein, „virtuell" und „Virtuali-
tät" werden deshalb so inflationär benutzt,
weil sie eben irgendwie ganz doll, mächtig
gewaltig klingen. Gracians Regel wird einge-
halten, „virtuell" und „Virtualität" nicht nä-
her erläutert.

Etwas mehr Klarheit in die Verwendung die-
ser Worte zu bringen, heißt vor allem, fest-
zustellen, daß sich kein Merkmal angeben
läßt, das allen Dingen, die mit „virtuell" be-
zeichnet werden, gemeinsam ist. So etwas
wie ein Begriff von DEM Virtuellen, DER Vir-
tualität existiert also nicht. Was die verschie-
denen Verwendungsweisen der Worte teil-
weise verbindet, ist, so meine Vermutung,
lediglich die Geschichte eines höchst auf-
schlußreichen Mißverständnisses.

Beginnen wir mit dem relativ klaren Anfang
der Karriere des Wortes „virtuell".

In dem Buch „Latein und Griechisch im deut-
schen Wortschatz", Berlin 1979, findet sich
auf S. 177 folgender Eintrag:

„Virtuell" wird hier im Sinne von Aristoteles
als „potentiell" im Gegensatz zu „aktuell"
verstanden und zugleich als real. Aristoteles
erläutert das (Metaph. 1048 b) folgenderma-
ßen: Dem Aktus entspricht der Bauende, der
Wachende, der Sehende, dem Potentiellen
der Baukundige, der Schlafende, der der die
Augen geschlossen hält aber nicht blind ist.
An diesen Beispielen wird klar, daß „virtuell"
nicht als Gegensatz zu „real" verstanden
wird. Die angeführten Fähigkeiten können
als real betrachtet werden, auch in den Mo-
menten, in denen sie nichtausgeübtwerden.
Es muß aiso unterschieden werden zwischen
aktuell und real, im Deutschen: zwischen dem
Gegenwärtigen und dem Wirklichen.

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