Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Hochschule für Industrielle Formgestaltung [Hrsg.]
Designtheoretisches Kolloquium — 16.1995

DOI Artikel:
Bergius, Hanne: Ästhetische Imaginationen zum künstlichen Menschen
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31840#0014

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Zu den alchemistischen Verwandlungs-
prozessen traten im Zuge der Erweiterung des
Wissens in Renaissance und Manierismus Vor-
stellungen von künstlichen Menschen, die
mehr und mehr phantastischen Räderwerken
singender, tanzender, rechnender, sprechen-
der und malender Androiden glichen. (Abb.
1) Zu ihrer artifiziellen Welt gehörte auch die
Fabrikation virtueller Bilder: In seiner
„Physiologia" (1624) stellte Athanasius
Kircher seine „Metaphern-Maschine" vor, die
den Betrachter in einem Spiegel als Sonne,
als Tier, Skelett, Pflanze oder Gestein erschei-
nen ließ. Die Bilder wurden von einer Walze
auf den Spiegel geworfen und verschmolzen
dort mit dem Betrachter. In diesen Metamor-
phosen werden die Korrespondenzen zwi-
schen Mikro- und Makrokosmos erlebbar.
Anhand virtueller Bilder sieht sich der Mensch
erstmals in Welten versetzt, mit denen er sich
bisher lediglich in seiner Phantasie verbinden
konnte.

Das Neben- und Ineinander von realen und
fiktiven Welten, das die Androiden des Ma-
nierismus charakterisierte, wurde im Barock
durch die mechanistische Vorstellung erwei-

tert, daß der Mensch überhaupt als Automat,
der Staat als Maschine und die Welt als Uhr
funktioniere, in deren Räderwerk jeder sei-
nen Sinn und Zweck hatte.

Das rationalistische und materialistische
Beurteilungsinstrumentarium eines mechani-
stischen Menschheitsbildes lieferte während
der Aufklärunq vor allem La Mettrie mit sei-
ner philosophischen Abhandlung „L'homme
machine" (1747) (5): Körper und Seele wer-
den gleichgesetzt - das Seelenvermögen ist
Teil der Mechanik des Körpers. Nur vor die-
sem materialistischen Denken konnte der
hölzerne „Flötenspieler" (1738) (6) von
Jacques Vaucanson auch als lebendig erlebt
werden. Er war nahezu lebensgroß - so wird
berichtet - und spielte wie ein Mensch, die
Lippen, Finger und Zunge bewegend, zwölf
Melodien auf einer Querflöte. Im Innern der
Figur, die nicht mehr erhalten ist, befand sich
keine Spieluhr, sondern ein von Uhrwerken
betriebenes Blasebalgsystem, das Luft erzeug-
te, die in der Flöte zu tönen begann. Mit
Vaucansons Flötenspieler wurde eine Welle
von Automatenkonstruktionen und die tech-
nische Vervollkommnung menschenähnlicher,
künstlicher Wesen eingeleitet: vor allem die
Verfeinerungen und Variationen von Vater
und Sohn Jacquet-Droz: „Der junge Schrei-
ber" (ca. 1770) (Abb. 2) von Pierre Jacquet-
Droz war ein Knabe, der an einem Schreib-
tisch saß, täuschend lebenswahr aussah, beim
Schreiben nicht nur langsam den Kopf be-
wegte, sondern auch mit den Augen folgte,
die Feder nach dem Eintauchen ins Tinten-
faß zweimal abstreifte, um Kleckse zu vermei-
den und Sätze schrieb, die programmiert
werden konnten. Für jeden Buchstaben wur-
de eine eigene Bewegungskombination ein-
gestellt. Als er in Nürnberg vorgeführt

Abb. 2: Pierre Jacquet-Droz:

Der junge Schreiber, um 1770

12
 
Annotationen