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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 29,4.1916

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Heft 24 (2. Septemberheft 1916)
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Rebensburg, Heinrich: Alte Dorfschönheit und moderne Technik: Brief an einen Ingenieur
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https://doi.org/10.11588/diglit.14294#0284
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Wir in die Geschichte rückwärtsblickende „Astheten" hemmen nur zu
oft — trotz bester Absichten — die vorwärtsstrebende Tendenz unsrer
Zeit. Wir verführen die zukunftzeugenden Kräfte dazu, sich in ihrem
naturgegebenen Auftreten unsicher zu fühlen und ihre Werke mit Mäntel-
chen von Formen zu behängen, die ihnen nicht von selbst auf den Leib
gewachsen sind. Hat denn in jenen „vorbildlichen" Zeiten, als unsere
Bauern ihre prächtigen Holzkonstruktionen schufen, auch stets ein „Asthet"
daneben gestanden und mit Lob oder Tadel eingegriffen, damit wir heute
nur hübsch zufrieden gestellt würden? Die Leute haben's so gemacht,
wie es ihnen am besten schien — und darum erscheint es uns
heute ebenfalls am besten so! Sie hatten keinen andern ästhetischen
Beirat als das ausschließliche Bestreben, das ihren Zwecken Dienende
recht ordentlich auf die Beine zu stellen; und wenn einer dazu noch ein
Herz im Leibe hatte, das auch ein wenig abkriegen wollte, dann haben
sie das Notwendige eben „schön^ gemacht, soweit irgend Gemüts- und
Zweckbedürfnisse sich vereinigen ließen. Daß dies Streben oft von ge-
diegenen Handwerks- und Formtraditionen begünstigt worden ist, das
soll uns anspornen, für unsere Zwecke ebenso lebenskräftige Formprägungen
zu gestalten.

Sie können sich getrost das Verdienst beimessen, dem heutigen Dorf in
Ihrem Beruf als Kraft-- und Lichtbringer größere Wohltaten zu erweisen
als ich, der Lobredner altehrwürdiger Bauernarchitektur. Und daß gerade
Sie von gutem, erhaltenswertem Alten nicht allzu viel verschandeln, das
getraue ich mich zuversichtlich zu hoffen, denn Sie haben in ästhetischen
Dingen ein feines Gewissen. Echtes Empfinden für Schönheit aber wird
von selbst keine groben Sünden gegen sie begehen können. Darum nehmen
Sie nur ja in die Dörfer in Kärnten und Krain, die Sie an Aberland-
zentralen anschließen, die Gewißheit mit, daß über die Schöpfungen unsrer
Zeit genau so geurteilt werden wird wie wir über die früherer Zeiten
urteilen: Das unseren Zweckbedürfnissen ehrlich Die-
nende ist gut undschön, wenn es in der unsern Geschmacks-
bedürfnissen entsprechend bestmöglichen Form sich dar-
stellt. Unsere Nachkommen werden es ganz selbstverständlich finden,
was uns heute noch zweifelhaft scheinen mag, daß nämlich der Mast einer
elektrischen Leitung vor dem schönsten alten Bauernhaus ästhetisch berech-
tigt ist, wenn er nur technisch gut und mit anständigem Geschmack mon-
tiert ist. —

Wer soll aber als die entscheidende Instanz für „unsere Ge-
schmacksbedürfnisse" gelten? Weder etwelche Theoretiker noch Laien, sondern
allein die hier produktiven Praktiker, die Ko n str uk t e ure s e l b st. Wächst
denn nicht heute bereits ein Geschlecht von Ingenieuren heran, die es erfaßt
haben, daß die Ingenieurarbeit auch erhebliche Pflichten ästhetischer Art
zu erfüllen hat, nicht dahin zielend, die traditionelle Roheit technischer Kon-
struktionen irgend mit Mätzchen zu bemänteln, sondern aus dem Wesen
der Leistung, des Arbeitsmaterials und seiner Funktion den neuen, spezi-
fischen Typus von Schönheit zu entwickeln? Es ist notwendig, daß auf
den technischen Hochschulen der Sinn dafür geweckt werde. Den Inge-
nieuren muß man beibringen, nicht nur das Mathematische ihres Bereichs
zu beherrschen, sondern auch die Form ihrer Leistungen zu empfin-
den. Lin nicht nur zum Rechnen, sondern auch zumSehenerzogener
Ingenieur wird ganz von selbst auf ästhetisch gute Konstruktionsformen

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