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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 31,2.1918

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Heft 10 (2. Februarheft 1918)
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Walzel, Otto: Umwertung von Dichtern
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https://doi.org/10.11588/diglit.14372#0110
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anschauungen von derart ausgeprägter Gegensätzlichkeit. So gilt denn der Iugend
tzauptinann wie etwas Äberwundenes und Veraltetes. tzatte man sich einst künst-
lerisch gefördert gefühlt, als der beträchtliche Unterschisd Hauptmanns und Suder-
manns endlich erfaßt war, so heißt es heute, Hauptmann trete im Auge der vor--
wärtseilenden Ausdruckskünstler wieder zurück an die Seite Sudermanns.

Oder ist vielleicht der Welt längst aufgegangen, daß Hauptmanns Kunst unecht
sei? Wer kritische Stimmen über ihn sammelt, könnte leicht zu bejahender Ant--
wort gelangen. Selten dürfte der Führer eines ganzen Geschlechts von deutschen
Dramatikern gleich wenig öffentliche Anerkennung gefunden haben. Seit Iahren,
ja seit Hauptmanns Anfängen ist es üblich, seinen neuen Stücken vorzuwerfen,
daß sie an seine älteren Leistungen nicht heranreichen. Alles soll nur auf ein
Absteigen seines Könnens hindeuten. Doch im Lauf der Zeiten erhielten auf solchem
Wege auch Dramen, die anfangs nur für schlechtes Neues galten, den Wert des
guten Alten. „Elga" wurde seinerzeit von Ginsichtslosen ein Plagiat an Grillparzer
genannt, als ob „Elga" nicht vielmehr eine der eigentümlichsten Umprägungen
überkommenen, dichterisch schon vorgeformten Stoffes wäre. Das ganze Stück wurde
überdies abgetan als flüchtige und unausgeführte Skizze. Fn den jüngsten Iahren
aber erhob sich in den Augen der Beurteiler dieselbe „Elga" zum Ieugnis für
das Große und Kunstvolle, das einst aus Hauptmanns Werkstatt hervorging und
ihm nachmals versagt geblieben sein soll. Unbeirrt durch diese Tatsache, die jedem
Kenner der Entwicklung deutscher Literatur seit lstOO geläufig sein dürfte, wird
jetzt die „Winterballade" zu einem Plagiat an Selma Lagerlöf gestempelt. Gleich-
wohl kann jeder halbwegs Einsichtige, wenn er Hauptmanns „Winterballade"
wirklich ncben die Novelle Selma Lagerlöfs legt, schon heute erkennen, was unter
tzauptmanns Hand aus der Borlage geworden ist, gsnau so wie schon vor zwöls
Iahren gleich nach dem Erscheinen von „Elga" ein Vergleich mit Grillparzers
Erzählung den ganzen großen Ämfang von Hauptmanns umgestaltenden Ein»
griffen zn enthüllen vermochte. Soll es wirklich wieder Fahre und Iahre dauern,
she die bequeme Sffentlichkeit erfährt, was der einzelne sofort mit einiger An°
strengung sich erobern kann?

Wenn freilich die neue Ausdruckskunst uns und unser Kunstgefühl mehr und
mehr von Hauptmanns Bahnen wegführt, so dürfte zu seinem Nachteil der übliche
Brauch nachträglicher und verspäteter Anerkennung seiner Werke auch noch ver-
schwinden. Allein ist es nötig, daß große künstlerische Gewinne von aller Welt
aufgegeben werden, sobald eine neue Kunst sich auftut und ihre Absichten mit
berechtigter Einseitigkeit vertritt? Was dem schaffenden Künstler ziemt, ja ihm
unerläßlich ist, braucht von den Empfangenden und Genießenden wirklich nicht
Zug für Zug nachgeahmt zu werden. Der Künstler versteht sich selbst besser,
wenn er einen andern Künstler mißversteht. Er liefe Gefahr, sich selbst zu ver-
lieren, wenn er restlos das Wesen jedes andern Schöpfers würdigen wollte, wenn
er vollends alles daran sehte, die Kunstwelt zu begreifen, über die er selbst
hinausgelangen soll. Der bloße Betrachter hingegen, das sogenannte Pnblikum,
macht sich nur ärmer, wenn es um des Neuen willen alles Alte verwirft.

Freilich stammt dieser Mißbrauch nicht von heute odcr von gestern. Wer nur
ein wenig sich um die Geschichte der Aufnahme von Kunstwerken gekümmert hat,
weiß, wie gleiche Ungerechtigkeit gegen das Ältere sich jederzeit mit einem neuen
kräftigen Aufschwung der Kunst verband. Sollte indes von solchen geschichtlichen
Tatsachen nicht zu lernen sein? Mir schwebt längst der Plan einer Darstellung
der Aufnahme vor, die von jeher Kunstwerke gefunden haben. Durchgehende
Züge lassen sich leicht nachweisen: zunächst die grundsähliche Abwehr und Unter-
schätzung alles Neuen, dann aber auch die Undankbarkeit gegen das Alte. Ver-
 
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