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Charakter des Thiers nach seiner geistigen Seite, worunter so-
wohl das Temperament wie das intellektuelle Leben desselben
zu verstehen ist. Es tritt aus seiner allgemeinen Geltung als
Vertreter seiner Gattung heraus und gewissermaaßen als In-
dividuum auf. Daß diese Erhebung zu einer relativen In-
dividualität in dem Thiere vorhanden ist, geht schon daraus
hervor, daß sie bei den weniger intelligenten Thieren in viel ge-
ringerem Maaße bemerkbar wird als bei den geistig begabteren.
Eine Kuh z. B., ein Hammel, eine Gans u. s. w. sind fast
nur Gattungsrepräsentanten; wir sagen „fast": denn wer sich
speciell mit ihnen beschäftigt, sich sozusagen in ihr Leben hinein-
lebt, wird bald erkennen, daß eine vollkommene Gleichheit und
Unterschiedslosigkeit, auch in geistiger Beziehung, nicht vorhanden
ist, und daß z. B. trotz aller scheinbaren Gleichheit in dem
Ausdruck des Schafsmäßigen doch keine zwei Hammel gefunden
werden dürften, die durchaus denselben physiognomischen Typus
dieses Ausdrucks zeigen. So werden die zu Stier- und Hahnen-
kämpfen bestimmten Thiere nicht nur in Rücksicht auf ihre Kraft
und Gelenkigkeit, sondern auch in Beziehung auf ihre geistigen
und moralischen Qualitäten, ihr Temperament, ihren Muth, ihre
Ausdauer u. s. w. geprüft, und diese von den Kennern in genauer
Weise charakterisirt. Also nicht nur das mehr oder minder
Vorhandensein solcher Eigenschaften bei dem einen und andern
Thier gleicher Gattung, auch die verschiedene Zusammensetzung
und Mischung derselben bestimmen den individuellen Charakter
des einzelnen Thiersubjekts.
Wenn daher auf den früheren Stufen, welche das Thier
in Ruhe zeigen, die Darstellung sich mit ihm hauptsächlich als
Repräsentanten seiner Gattung befaßt und die Aufmerksamkeit
vornehmlich auf die prägnante Wiedergabe des Gattungs-
charakters sich richtet, so tritt auf der dritten Stufe die For-
derung auf, den individuellen Charakter des Thieres
in's Auge zu fassen. Die Darstellung des Gattungscharakters ist
übrigens sehr wohl mit der Auffassung und Festhaltung von
Verschiedenheiten der einzelnen Thiere — wenn es sich etwa
um eine Gruppe derselben handelt — vereinbar; ja sie ist in
solchem Falle geboten. Aber diese Unterschiede, welche auf der
Verschiedenheit des Alters, Geschlechts, der zufälligen Stärke,
der Färbung resp. beruhen, sind immerhin äußerliche und we-
nigstens nicht im strengsten Sinne des Worts individuelle. In
einem Brendel'schen „Schafstall" wird sicher kein einziges
Schaf dem andern völlig gleichen, ohne daß sie jedoch deshalb
schon individualisirt erschienen. Erst in einer Action, welche
die geistigen Potenzen des Thieres in Anspruch nimmt, tritt
eine physiognomische Jndividualisirnug ein; natürlich also haupt-
sächlich bei solchen Thieren, die überhaupt eine zur Action ge-
neigte Natur haben.
Im Thiergenre, wie wir der Kürze halber die Dar-
stellung des Thieres vom Gesichtspunkte seiner individuellen
Physiognomik nennen wollen, findet nun die Kunst deshalb be-
sonders einen reichen Stoff, weil es nach allen Seiten hin ein
naives Spiegelbild — und wäre es auch nur ein karrikirtes —
der menschlichen Natur darbietet. Das Familienleben der
Thiere, die Zärtlichkeit und Aufopferungsfähigkeit der Mutter-
liebe, die täppische Unbeholfenheit und drollige Schalkhaftigkeit
der Jungen, ihre Lust zum tändelnden Spiel, ihre Schalkhaftig-
keit; andrerseits die Eifersucht, der Zorn und Haß, welcher sich
bei feindseliger Annäherung ausspricht, die Hinterlist und Schlau-
heit, mit der gewisse Thiere ihren Feinden auflauern: alles Dies
und tausenderlei Mehr gewährt ein Abbild menschlicher Gefühle
und Leidenschaften. Und hierin beruht hauptsächlich der Reiz sol-
cher Darstellungen; ein Reiz, der oft — selbst bei humoristischen
Darstellungen; wir erinnern an zahlreiche dahin gehörige Dar-
stellungen Stesseck's — mit einem leichten Beigeschmack von
Sentimentalität versetzt ist. Es ist uns fast, als ob die Thier-
gestalt nur eine unfreiwillige Maske wäre, zu welcher die Natur
das Thier verurtheilt habe. Aber diese Melancholie, welche aus
dem Gefühl der Differenz zwischen dem uns in solchem Falle
menschlich anmuthenden Empfinden des Thieres und seiner thier-
haften Gestalt entspringt, fügt der Darstellung nur einen neuen,
wahrhaft poetischen Reiz hinzu.
Wir haben hierbei zunächst die zahmen Thiere im Auge
gehabt. Aber auch die Wald- und Feldthiere geben für die
genremäßige Behandlung des Thiermotivs reiche Anhaltpnnkte.
Vieles allerdings — und darunter das nicht mindest Inter-
essante — geht der Beobachtung, noch mehr der Darstellung
verloren, wie das Leben der kleineren Thiere, z. B. der Bienen,
die es an Intelligenz mit den begabtesten Thiernaturen auf-
nehmen; denn jeder Bienenkorb bildet einen vollkommen orga-
nisirten Staat, in welchem sogar die Wartung und Erziehung
der Kinder nach rein platonischen Principien gehandhabt wird.
Indessen selbst das Wenige, was sich auf diesem Gebiete der
Beobachtung nicht entzieht, wird, weil dazu ein besonderes Stu-
dium nöthig ist, in viel zu geringem Maaße durch die Kunst
verwerthet. Einige Künstler allerdings, z. B. der Graf Kra-
kow, haben das freie Wald- und Feldthier öfter zum Motiv
genommen; aber entweder haben sie es nur unter dem Gesichts-
punkt des Jagdthiers dargestellt, oder sie haben sich ans den
Standpunkt des Thierportraits beschränkt. Das Jagdthier, oder
„das Wild" (wie der allgemeine, aber nicht sehr passende Jäger-
ausdruck lautet, denn gerade das Jagdthier gehört meist zu de»
schüchternsten freien Thieren) ist freilich ein dankbares und reich-
haltiges Motiv, aber es zeigt das Thier doch nur von der ne-
gativen Seite, fliehend aus Angst oder kämpfend aus Verzweif-
lung. Die positiven Lebensäußerungen und besseren Eigenschaften
des Thiers kommen dabei wenig zur Geltung. (Forts, folgt.)
Charakter des Thiers nach seiner geistigen Seite, worunter so-
wohl das Temperament wie das intellektuelle Leben desselben
zu verstehen ist. Es tritt aus seiner allgemeinen Geltung als
Vertreter seiner Gattung heraus und gewissermaaßen als In-
dividuum auf. Daß diese Erhebung zu einer relativen In-
dividualität in dem Thiere vorhanden ist, geht schon daraus
hervor, daß sie bei den weniger intelligenten Thieren in viel ge-
ringerem Maaße bemerkbar wird als bei den geistig begabteren.
Eine Kuh z. B., ein Hammel, eine Gans u. s. w. sind fast
nur Gattungsrepräsentanten; wir sagen „fast": denn wer sich
speciell mit ihnen beschäftigt, sich sozusagen in ihr Leben hinein-
lebt, wird bald erkennen, daß eine vollkommene Gleichheit und
Unterschiedslosigkeit, auch in geistiger Beziehung, nicht vorhanden
ist, und daß z. B. trotz aller scheinbaren Gleichheit in dem
Ausdruck des Schafsmäßigen doch keine zwei Hammel gefunden
werden dürften, die durchaus denselben physiognomischen Typus
dieses Ausdrucks zeigen. So werden die zu Stier- und Hahnen-
kämpfen bestimmten Thiere nicht nur in Rücksicht auf ihre Kraft
und Gelenkigkeit, sondern auch in Beziehung auf ihre geistigen
und moralischen Qualitäten, ihr Temperament, ihren Muth, ihre
Ausdauer u. s. w. geprüft, und diese von den Kennern in genauer
Weise charakterisirt. Also nicht nur das mehr oder minder
Vorhandensein solcher Eigenschaften bei dem einen und andern
Thier gleicher Gattung, auch die verschiedene Zusammensetzung
und Mischung derselben bestimmen den individuellen Charakter
des einzelnen Thiersubjekts.
Wenn daher auf den früheren Stufen, welche das Thier
in Ruhe zeigen, die Darstellung sich mit ihm hauptsächlich als
Repräsentanten seiner Gattung befaßt und die Aufmerksamkeit
vornehmlich auf die prägnante Wiedergabe des Gattungs-
charakters sich richtet, so tritt auf der dritten Stufe die For-
derung auf, den individuellen Charakter des Thieres
in's Auge zu fassen. Die Darstellung des Gattungscharakters ist
übrigens sehr wohl mit der Auffassung und Festhaltung von
Verschiedenheiten der einzelnen Thiere — wenn es sich etwa
um eine Gruppe derselben handelt — vereinbar; ja sie ist in
solchem Falle geboten. Aber diese Unterschiede, welche auf der
Verschiedenheit des Alters, Geschlechts, der zufälligen Stärke,
der Färbung resp. beruhen, sind immerhin äußerliche und we-
nigstens nicht im strengsten Sinne des Worts individuelle. In
einem Brendel'schen „Schafstall" wird sicher kein einziges
Schaf dem andern völlig gleichen, ohne daß sie jedoch deshalb
schon individualisirt erschienen. Erst in einer Action, welche
die geistigen Potenzen des Thieres in Anspruch nimmt, tritt
eine physiognomische Jndividualisirnug ein; natürlich also haupt-
sächlich bei solchen Thieren, die überhaupt eine zur Action ge-
neigte Natur haben.
Im Thiergenre, wie wir der Kürze halber die Dar-
stellung des Thieres vom Gesichtspunkte seiner individuellen
Physiognomik nennen wollen, findet nun die Kunst deshalb be-
sonders einen reichen Stoff, weil es nach allen Seiten hin ein
naives Spiegelbild — und wäre es auch nur ein karrikirtes —
der menschlichen Natur darbietet. Das Familienleben der
Thiere, die Zärtlichkeit und Aufopferungsfähigkeit der Mutter-
liebe, die täppische Unbeholfenheit und drollige Schalkhaftigkeit
der Jungen, ihre Lust zum tändelnden Spiel, ihre Schalkhaftig-
keit; andrerseits die Eifersucht, der Zorn und Haß, welcher sich
bei feindseliger Annäherung ausspricht, die Hinterlist und Schlau-
heit, mit der gewisse Thiere ihren Feinden auflauern: alles Dies
und tausenderlei Mehr gewährt ein Abbild menschlicher Gefühle
und Leidenschaften. Und hierin beruht hauptsächlich der Reiz sol-
cher Darstellungen; ein Reiz, der oft — selbst bei humoristischen
Darstellungen; wir erinnern an zahlreiche dahin gehörige Dar-
stellungen Stesseck's — mit einem leichten Beigeschmack von
Sentimentalität versetzt ist. Es ist uns fast, als ob die Thier-
gestalt nur eine unfreiwillige Maske wäre, zu welcher die Natur
das Thier verurtheilt habe. Aber diese Melancholie, welche aus
dem Gefühl der Differenz zwischen dem uns in solchem Falle
menschlich anmuthenden Empfinden des Thieres und seiner thier-
haften Gestalt entspringt, fügt der Darstellung nur einen neuen,
wahrhaft poetischen Reiz hinzu.
Wir haben hierbei zunächst die zahmen Thiere im Auge
gehabt. Aber auch die Wald- und Feldthiere geben für die
genremäßige Behandlung des Thiermotivs reiche Anhaltpnnkte.
Vieles allerdings — und darunter das nicht mindest Inter-
essante — geht der Beobachtung, noch mehr der Darstellung
verloren, wie das Leben der kleineren Thiere, z. B. der Bienen,
die es an Intelligenz mit den begabtesten Thiernaturen auf-
nehmen; denn jeder Bienenkorb bildet einen vollkommen orga-
nisirten Staat, in welchem sogar die Wartung und Erziehung
der Kinder nach rein platonischen Principien gehandhabt wird.
Indessen selbst das Wenige, was sich auf diesem Gebiete der
Beobachtung nicht entzieht, wird, weil dazu ein besonderes Stu-
dium nöthig ist, in viel zu geringem Maaße durch die Kunst
verwerthet. Einige Künstler allerdings, z. B. der Graf Kra-
kow, haben das freie Wald- und Feldthier öfter zum Motiv
genommen; aber entweder haben sie es nur unter dem Gesichts-
punkt des Jagdthiers dargestellt, oder sie haben sich ans den
Standpunkt des Thierportraits beschränkt. Das Jagdthier, oder
„das Wild" (wie der allgemeine, aber nicht sehr passende Jäger-
ausdruck lautet, denn gerade das Jagdthier gehört meist zu de»
schüchternsten freien Thieren) ist freilich ein dankbares und reich-
haltiges Motiv, aber es zeigt das Thier doch nur von der ne-
gativen Seite, fliehend aus Angst oder kämpfend aus Verzweif-
lung. Die positiven Lebensäußerungen und besseren Eigenschaften
des Thiers kommen dabei wenig zur Geltung. (Forts, folgt.)