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Deutsches Kunstblatt: Literaturblatt des Deutschen Kunstblattes — 4.1857

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https://doi.org/10.11588/diglit.1206#0026
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Ivissens verschaffen. Andere Verse singt man, wenn der Geist der
Langeweile das Kind quält, indem man zugleich den Körper des
Kindes belebt, seine Fingerlein zn einer Art von Puppenspiel benutzt,
oder das ganze Kind auf den Schoß setzt und zum Reiter macht,
der wohin reitet, um etwas zu holen, oder um ein Unglück zu er-
leiden, da er im finstern Wald vom Pferde fällt. Oft stellt man
das Kind aus seine eigenen Füße, und tanzt mit ihm im Ringe
umher, wobei sich die Ironie eines solchen Tanzes zwischen Groß
und Klein leicht in einem Spottverse Luft macht. Gegen die Lange-
weile hilft auch ein unabsehbares Wiederholungslied, in welchem
eine lange Kette von Ursachen und Wirkungen abgewickelt wird.
Das beschäftigt den Geist deö Kindes, und entrückt es seinem mo-:
mcntanen Zustand in eine fremde Welt, wo Jakob die Birnlein
herabschütteln soll, die doch nicht fallen wollen, weshalb das Httnd-
lein ausgesandt wird, den Jakob zu beißen, und so ins Unendliche,
woraus das vollständige Interesse eines aufgestellten Puppenspiels
entsteht. Oder man giebt dem Kinde Räthsel auf, keine wirklichen,
sondern spaßhafte Unmöglichkeiten; denn das Kind besitzt noch nicht
den Verstand, auch nur das einfachste Räthsel zu lösen, das irgend
eine Eoncentration erfordert. Dagegen liebt es ausnehmend einen
Eontrast, der es zum Lachen veranlaßt. Das benutzt man, wenn
dem Kinde etwas weh thut, besonders in lustigen Beschwörungsversen.
Um der Aufmerksamkeit des Kindes Gegenstände zu bieten, bringt
man die Schnecke, den Käfer, den Frosch, den Vogel im Käfig,
den Storch im Freien, das Lämmchen, den Hund, die Katze in
kleine Thierlieder, die freilich schon an die Kunstfabel streifen. Ge-
legentlich wird ein Vers aufs Thierquälen abgesungen, wozu das
Kind oft ohne seinen Willen kommt, durch gedankenloses Beschäftigen
der Hände, wirkliche Neugier oder mißverstandene Zärtlichkeit.
Wegen seiner Zerstreutheit kann es überhaupt keine Acht auf sich
haben; so entstehen Spott- und Neckverse auf unreinliche Nasen,
beschmutzte Kleider, Naschhaftigkeiten, kleine Diebstähle und Eulen-
spiegeleien. Sogenannte gebildete Väter und Mütter wissen freilich
von einem solchen vertrauten Wechselverkehr mit dem Kinde wenig.

In allen dergleichen Versen spielt eben der Reim eine Haupt-

rolle, weil die Stimmung und Bewegung auf einem fremden Gebiet
sich erhalten soll. Man will das Kind dem Zustande des Unbehagens
entrücken und in einer fremden Welt verweilen lassen. In Tanz-
liedern, worin der Bettelgciger, der trunkene Bauer, der Eapuziner,
oder gar eine Tanzgcscllschaft geschwänzter Thiere auftrilt, zeigt sich
wieder Verwandtschaft mit der Fabel. Von den Liedern, die sich
die Erwachsenen singen, zn den Liedern, die sich die Kinder singen,
bilden jene Lieder den Uebergang, die man die Kinder lernen läßt,
in welchen aber doch nur eine kindische Vorstellung enthalten ist.
Um den Wünschen des Kindes entgegen zu kommen, dichtet man
eine verkehrte Welt; um Unbändigkeit zu mildern und zu besänftigen,
insiuuirt mau Gebetverse, in denen die Engelein nicht vergessen sind,
oder Bitt- und Dankvcrse an den guten Mann, der in der Schwei;
als St. Niklas die Kinder beschenkt, und oft eine Ruthe bringt.

Im Gegensatz zu allen Denk- und Memorialversen stehen nun
aber die Lieder, welche die Kinder unter einander singen, eigentliche
Dithyramben der Narrentheiding und Absurdität, denn es ist ein
^ieg der Kindesnatur über alle Anforderung, welche die ernste Zu-
kunft vorbereiten soll. Das Kind hat Gefallen am Gegensatz gegen
allen Ernst, gegen jede Anspannung, es gefällt sich im Sprung (tut
^llmp, to jump, schweizerisch und englisch für springen) wie im
Schlendern und in beliebiger Geberde. Das Kind liebt ungestörtes
stilles Sitzen bei einer Beschäftigung, die dazu paßt, oder will im
Gegenthcil ungehemmte Bewegung empfinden. Denn es bedarf der
Extreme, da es die Ausgleichung im Maße noch nicht gefunden hat,
und doch wie der Erwachsene des Wechsels von Ruhe und Thätig-
keit nicht entbehren kann. Das Kind liebt willkürliche Bewegung

des ganzen Körpers, des Mundes, der Lippen, der Zunge, es
plappert gern, redet in erfundenen fremden Sprachen, und will für
eine fremde Person gelten. So entstehen die Klingliedcr, die
närrischen Abzählverse bei den Spielen, die Lautproben, die viele
schwierig anszusprcchende Laute auf einen Vers häufen.

Eine höhere Stufe zeigt sich in der Parodie. Weil die Kinder
für Ernst höchstens in der Phantasie ein Interesse hegen, so lassen
sie gern auf einen scheinbaren Anlauf von Ernst plötzlich einen Spaß
folgen. Daher das Epigramm aufs Lernen, a e i o u, ein Esel
bist Du. Erwachsene gehen auf diese Kinderweise ein, und pflegen
eine große Erzählung anzulegen und neckisch zu schließen. So äffte
Demosthenes soga/ das athenische Volk mit der Geschichte von des
Esels Schatten. Auf parodischem Wege entstehen die Kinderpre-
digten, die auf einen ernsten Gegenstand anspielen und das tollste
Zeug daran knüpfen. Es bilden sich Verse wie „Emanuel, der
Friedefürst, hat den Sack voll Leberwürst." Mit ähnlichen Reimen,
als „Du bist im Paradeis, und hast den Kopf voll Läus," hängen

dann die groben Gassenlieder zusammen, in welchen Leichtsinn und
liederlicher Sinn offenbar wird. Das Kind auf der Gasse ist sich
selbst mit seinen oft nicht sehr gewählten Gefährten überlassen.
Die Reibung des Verkehrs wetzt seine Erfahrung und versieht die-
selbe mit einem gültigen Ausdrucke. Unschuldig sind da noch Spott-
lieder auf leibliche Mißgestalt, lange Nase, große Füße und andere
verkehrende Außenseiten, die einem Individuum besondere Bedeutung
zu verleihen scheinen. Es wird nichts gelitten, was anders sein
will, als andere. Eigenheiten werden mit Spitznamen gebrandmarkt
und oft in einem Berschen besprochen. Besonders ausgelassene
Spottlieder sind in den Schulen gebräuchlich. Wenn mit dem
Schluß der Stunde die widerstrebende Disciplin ihr Ende hat, so
bricht der Muth in Streit, Hader, Spott, Hohn und Satire aus,
in ungehemmte Bewegung des Körpers und Geistes. Im Freien
gewinnt die jugendliche Brust Flügel.

Ist nun wirklich den Kindern Muße zu freier Entfaltung ge-
geben, so wechselt die Bewegung in mancherlei Spielen, zu denen
oft Marschlieder gesungen werden, die jedoch meist Kunstlieder sind.
Viel näher der Natur sind die Spiellieder, welche in Zimmer und
Garten, in Wald und Wiese erklingen, deren Inhalt verstümmelte
Mährchen, Anspielungen auf solche, oder mährchenhafte Vorstellun-
gen ausmachen, [bet Mädchen oft sehr stolz, die Rolle einer Königin
oder Prinzessin, doch manchmal auch Thiere, und allerlei Klingklang
und Singsang dazwischen. Man bewegt sich mit einem Wort in
einer heimischen kindischen seltsamen Welt, in der man ungenirt
Hüpfen und tanzen kann, oder ohne Unterbrechung sich todt lacht.

Das Jugcndalter wächst heran, der allmälige Rückzug aus der

Kinderwelt bereitet sich, und man behält zum Theil noch die

Empfindungen und Wünsche und Träume der Kinder in der Brust;
es naht das wunderbare Geflecht des Schicksals, wo dann das er-
wachende Geschlechtsleben neue Sonnenscheinfäden einspinnt, wo der
bewegtere bedeutsamere Tanz und Rausch des Körpers und Geistes,
die Verkettung kleiner Interessen, und der ernste Weg zum Prediger
sich neben einander finden; wo eine heilig gemeinte Andacht stets
von süßen Gefühteü der in Natur und Schönheit des Daseins zit-
ternden Brust begleitet wird. Da erwachen und zeugen sich die

Keime des ächten Volksliedes, eine Ahnung oder Verspottung des

Heirathens, die neugierige Beobachtung ehelicher Verhältnisse, des
Benehmens der Liebenden und Brautpaare, und im wilden Bur»
scheu der Ruf des Wanderns in die weite Welt. Für alle solche
Zustände und Vorgänge hat der Herausgeber eine nicht geringe
Ausbeute zn sammeln gewußt, uud demjenigen, der blos andeutende
Zeilen zn lesen versteht, einen reichen Stoff zum Genuß lind zur
Erkenntniß dargeboten.
 
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