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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 23.1908

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Bethge, Hans: Karl Walser - Berlin
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https://doi.org/10.11588/diglit.6701#0356
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Karl Walser—Berlin.

KARL WALSER—BERLIN.

Fries im Frühstücks-Zimmer des Herrn Julius Cassirer—Charlottenburg.

Liebe, rauschende Seide und die schöne,
üppige Büste der Ninon in der hohen Schnür-
brust, an die sich das bauschige Gewand aus
geblümter Seide in schönem Rhythmus an-
schmiegt. Mit welchem Charme hat er das
lockige Köpfchen der Ninon zu umgeben
gewußt! Nur ein paar Linien des Umrisses,
und die ganze Lebensfülle dieses liebenden
Weibes atmet uns an. Die blumige Grazie
des Rokoko ist auf eine ganz lyrische Art
eingefangen in diesen Radierungen. Walser
ist ein Lyriker, und er ist auch ein Primitiver.
Er weiß seine malerischen oder zeichnerischen
Gesichte auf eine beneidenswerte Art zu ver-
einfachen, so daß alles Unwichtige fortbleibt
und der Rhythmus, auf den es ihm ankommt,
uns ganz unmittelbar entgegentritt. Es ist
amüsant zu sehen, wie er das Laub von
Bäumen und Sträuchern aus lauter kleinen,
einförmigen, schnörkeligen Kringeln zusammen-
fügt; oder wie er Gestalten mit ein paar so
harmlos aussehenden, andeutenden Linien
drollig sicher umreißt. Diese Einfachheit hat
etwas Mystisches. Sie hebt die Darstellungen
dieses träumerischen Malers hinaus über das
Erdenhafte, und wir meinen in ein liebliches,
neues Land zu sehen, in dem eine Harfe
seltsame Melodien tönt. So etwas ganz Ent-
rücktes haben die primitiven Zeichnungen zu
Robert Walsers kleinem Buch »Fritz Kochers

Aufsätze«. Ein feiner, neckischer Humor
liegt über den Blättern dieses Buches, die
Primitivität tritt hier sehr drollig auf und
scheint über sich selbst zu lächeln. Man
betrachte das reizende Blatt »Die Schulstube«
mit all den von hinten gesehenen, mit ein
paar Linien hingestrichelten Jungen, die alle
den gleichen Rhythmus haben und dabei doch,
obwohl man sie nur von hinten sieht, mannig-
fach individualisiert sind. Diese primitive
Komik hat etwas Mystisches, ich kann mir
nicht helfen. Das ist keine gewöhnliche
Schulstube mehr, in die wir hier blicken,
sondern das Tragikomische in der Atmosphäre
aller Schulstuben wird wach; ebenso wie wir
das Tragikomische im Leben aller Kommis
empfinden, auf jenem famosen Blatt, das
»Der Kommis« heißt und einen Blick in das
Kontor eines Kaufmannes gewährt; oder wie
wir das Tragikomische im Dasein aller Dichter
empfinden, auf jener kleinen Zeichnung, die
einen armen, kranken Poeten darstellt, wie
er an einem Fenster sitzt und, den Kopf in
die Hand gestützt, in eine regendurchflutete
Landschaft schaut. Eine Primitivität, die
mehr gibt als die Vereinfachung der Dinge,
die vielmehr lächelnd über den Dingen steht
und auf sie hinabsieht, als auf etwas Seltsames,
Rätselvolles, Ernstes und Komisches zugleich.
Neben dem Rokoko ist es vor allem die

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