Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 60.1927

DOI Artikel:
Schürer, Oskar: Angewandte Architektur
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.9255#0053
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
ANGEWANDTE ARCHITEKTUR

Wir erleben heute ein mächtiges Empor der
zeitgenössischen Architektur. Grund-
probleme der Baukunst und Probleme heutigen
Bauens werden theoretisch wie praktisch mit
gleicher Intensität bearbeitet. Und oft ist es
gerade der scheinbare Widerstreit jener mit
diesen, der die äußerste Aktivität herausfordert.
Sicherlich ist es eine paradoxe Erscheinung,
wenn radikalste Vertreter heutigen Bauens, die
Verfechter des „Nur-Zweckbaus" und der
„Wohnmaschine", allen Anspruch der Archi-
tektur auf Kunstcharakter striktest leugnen,
während doch eben jetzt die Baukunst sich an-
schickt, ihre alte Stellung als Mutter unter den
bildenden Künsten zurückzuerobern. Und doch
liegt auch noch in diesem Paradox ein frucht-
bares Moment: die Tatsache nämlich, daß
solcherweise alle Möglichkeiten des Bauens zu
ihrer äußersten Wirksamkeit herausgetrieben
werden — vor allem, daß damit das tiefste
Problem der Architektur: die in ihr zu reali-
sierende Einheit von Kunsträum und Natur-
raum, zu gültiger Lösung fixiert wird.

Hinter solch steilem Empor der großen Ar-
chitektur sinken in den Schatten jene Zwischen-
reiche, deren Bedeutung für die Entwicklung
zwar indirekter, dafür aber umso direkter für
die Beeinflussung des Lebens durch die neuen
Bemühungen sind. Wir meinen jene Bereiche,
in denen architektonische Leistungen mit sol-
chen aus anderen Künsten sich berühren, wo
Raumwirkung mit farbiger und plastischer Ge-
staltung zusammentrifft — wo also all jene Ver-
hältnisse sich konslituieren, die das Gesamt der
bildenden Künste ausmachen. Und doch er-
wachsen oft gerade auf diesem Boden — wir
wiederholen es — die direktesten Beziehungen
heutigenBauempfindens zumpraktischenLeben.
Und sicher ist es diese Region, die die intimeren
Werte, die aus dem Neuen erwachsen, zur vollen
Auswirkung gelangen läßt. Wir nennen es
das Gebiet der angewandten Architektur und
umfassen damit den ganzen Umkreis äußerer
und innerer Raumausstaltung, der Anwendung
der neuen Formprinzipien aufs Detail des Pri-
vathauses, des Gartens, des Möbels; auch die
Erweiterung und phantastische Ausdeutung der
neuen Raumanschauung auf der Bühne, Durch-

stilisierung der Figurinen und Kostüme. Hier
ist der Ort, wo ein neues Kunstwollen, das in
der Architektur sich ausspricht, sich zu behaup-
ten hat vor der Gefahr leeren Absinkens ins
Nur-Kunstgewerbliche, wo es auch im ver-
lockend reizvollen Nebenbei noch stichhaltige,
konstruktiv unterbaute Durchgeformtheit zu be-
währen hat. Kein Zweifel, daß auch hier sich
Wesentliches begibt. Nicht nur an der Verän-
derung unseres Stadtbildes, auch an der Wand-
lung unseres Wohnens und Genießens wird eine
kommende Zeit unsere merklich veränderte
Einstellung zu aller Wohnkultur gegenüber der
Vorgeneration abzulesen haben. Und oft sind
gerade im „Fingerspitzenbereich" unserer Form-
kultur die feinsten Ausschläge und Reaktionen
eines Weltgefühls abzulesen.

Bis hierher hat man die Arbeit eines monu-
mental schaffenden Architekten herabzuver-
folgen, um die Echtheit und Stichhaltigkeit seiner
Impulse bewerten zu können, — von hier aus
hat man eine entgegengesetzte Architekten-
begabung, die im Ineinander der kleinen Künste
wurzelt, hinaufzuverfolgen in die absolute ar-
chitektonische Leistung.

Und hier ist auch der Ort, wo der Schaffende
am innigsten mit dem Publikum sich berührt,
nicht nur mit den allgemeinen Dispositionen des
großen Bauherrn, sondern mit den tausend
kleinen Wünschen jedermanns. Hier ersteht
der intime Kontakt. Hier ist also der kritische
Punkt, wo das Publikum verantwortlich auf den
Schaffenden einzuwirken vermag. Wie es seine
Wünsche klärt, wie es seine Vorlieben durch
den Filter einer ernsten Geschmackskultur gehen
läßt, ehe es sie als Aufgabe dem Architekten
zumutet, wie es sich im Zusammenarbeiten mit
dem zielbewußten Künstler erziehen und heben
läßt, — das sind jene Stimulantien, die der
Schaffende aufnimmt in seine Arbeit, um sie
dort fruchtbar zu machen für die größere Ent-
wicklung. Angewandte Architektur in diesem
Sinne betreibt also jeder auch in der kleinsten
Äußerung seiner Wünsche. Ja noch wo er ohne
alle architektonischen Aspirationen sich ein-
richtet, Möbel stellt und Bilder hängt, wirkt er
mit seinem kleinen Teil mit an dem Ganzen
unserer modernen Gesinnung...... dr. o. s.

43
 
Annotationen