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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 66.1930

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Wenzel, Alfred: Über die Form der Kunstkritik
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https://doi.org/10.11588/diglit.9256#0167
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ÜBER DIE FORM DER KUNSTKRITIK

VON DR. ALFRED WENZEL

Darüber, daß die Kunstkritik notwendig ist,
daß wir uns ohne sie kein „Kunstleben"
denken können, besteht kein Zweifel. Sie ist
uns heute eine selbstverständliche und nicht zu
eliminierende Vermittlungsinstanz zwischen den
Sphären schöpferischer Produktion und betrach-
tender Aufnahme. — Sie ist es immer gewesen.
Aber die Form dieser Vermittlung hat Verän-
derungen erfahren, und darüber einige Erwä-
gungen anzustellen, ist aus mehr als einem
Grunde interessant.

Als, im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts
etwa, die Kunstkritik im modernen Sinne sich
auszubilden begann, war ein mehr oder weniger
ausgesprochenes Programm durch die Absicht
bestimmt: gewissermaßen die gewichtigstenEnt-
scheidungen, welche in den Kreisen der be-
trachtenden Öffentlichkeit gefällt wurden, zu
sammeln, den Schaffenden zur Kenntnis zu
bringen, und damit auf ihre Leistungen einen
Einfluß zu nehmen. Es ist leicht einzusehen,
daß eine solche Form der Kunstkritik nur unter
der Voraussetzung einer Allgemeinheit ent-
stehen kann, die den ständigen Umgang mit
Kunstwerken pflegt und seit langem darin so-
weit geübt ist, daß ihre Meinungsäußerungen
einer gültigenWertbeurteilung nahekommen und
darum eigentlich nur mehr der zusammenfas-
senden Formulierung bedürfen. Die „Vermitt-
lung" erfolgte vom Publikum zum Künstler
hin, — im Gegensatz zur heutigen Kritik, die
(natürlich im großen gesehen) in der umge-
kehrten Richtung tätig ist: als Interpretin
der künstlerischen Produktion, die einer Mit-
welt nahegebracht werden soll.

„Alles ist einfacher, als man denken kann,
zugleich verschränkter, als zu begreifen ist",
sagte Goethe einmal und tat damit einen Aus-
spruch, der vor jedem Phänomen zitiert werden
kann; doch gilt er ganz besonders, wenn man
vor einer Wandlung wie der eben angedeuteten
nach der Ursache fragt: es handelt sich da
um einen ganzen Komplex von Ursachen und
die Fäden ihrer vielfältigen Verknüpfung sind
nicht leicht auseinanderzulegen. Immerhin fallen
zwei von ihnen deutlicher in die Augen, — aber
schon an ihnen sieht man, wie kompliziert die
Beziehungen sind, denn beide verdeutlichen
Strebungen, die eigentlich unabhängig vonein-
ander sind, aber so gesehen werden können,
als habe das eine Phänomen das andere her-
vorgerufen, wobei es wieder möglich ist, jedes

der beiden für sich an den Anfang zu setzen:
wir meinen auf der einen Seite jene Distanz
des Publikums von der künstlerischen Produk-
tion, die man im Vergleich mit zurückliegenden
Epochen, die uns durch Überlieferung gegen-
wärtig sind, direkt als Kunstfremdheit bezeich-
nen könnte, — auf der anderen Seite die Distanz
des Künstlers, das Fehlen des wirklichen
Kontaktes zwischen seinem Produzieren und
den rezeptiven Bedürfnissen der weiteren Um-
welt. — Es ist ein Irrtum, beide Tatsachen durch
die gleiche Ursache zu erklären: denn jene
starke Inanspruchnahme, in der heute die große
Mehrzahl der Menschen im Dienste der äußeren
technischen „Zivilisation" beschäftigt, und zwar
so sehr beschäftigt sind, daß sie von sich selbst
sagen, „für die Kunst" wenig Zeit zu haben,
gab nicht den Grund ab dafür, daß der Künstler
seinerseits durch die Beschäftigung mit „Pro-
blemen", die in der Hauptsache nur ihn an-
gingen, den Kontakt noch mehr lockerte.

Wie überall sind auch in diesem Falle die
Folgen, die sich aus gewissen Ursachen er-
gaben, wichtiger als diese letzteren selbst, —
und damit sind wir wieder bei der Kunstkritik.

Da in der Vermittlung ihr Wesen, ihr „Sinn"
beschlossen liegt, und nur das vorhandene
Kunstwerk ihr den Anlaß zur Bewährung geben
kann, blieb sie, als jene Wandlungen einsetzten,
beim Künstler und wurde die Interpretin seiner
Schöpfungen, das ist ganz einleuchtend. Es
kann aber unmöglich übersehen werden, daß
sie sich dabei bis zu einem mehr oder weniger
hohen Grade ihrer eigentlichen kritischen
Funktion begab: denn mit der zunehmenden
Lockerung des Kontaktes, der einst den Maler
mit dem Publikum verband, mußte sich die In-
terpretation immermehr auf den bloßen Appell
an das Gefühl des Betrachters beschränken,
auf den Versuch, in ihm eine Gefühlsreaktion
überhaupt, ein „Erlebnis" irgendwelcher Art an-
zuregen. — Es ist nicht ohne weiteres zu sagen,
wie weit die Aufgabe des Kritikers dadurch
erleichtert worden sei, jedenfalls wurde sie re-
duziert. Und würde einmal die Geschichte
der neueren Kunstkritik geschrieben, dann
könnte man genau darlegen, wie im Laufe dieser
Wandlungen die eigentlichen Maßstäbe etwas
in Vergessenheit gerieten, und wie deshalb die
Bedeutung, welche die „Kritik" nun für den
Künstler selbst hat, von mehr propagandi-
stischer, also wirtschaftlicher Art ist. Schon
 
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