BEWEISE GEGEN DIE HOHE ZAHL
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4. Bei 108 Freiern hätte endlich auch Mentor unmöglich in
der Volksversammlung des 2. Tages (2,240—41) von „weni-
gen“ (παύρονς) Freiern und vielen (πολλούς) ithakesischen
Bürgern sprechen können. Wir wissen zwar nicht, wie viele
Bürger der Stadt Jthaka an der Volksversammlung teilnah-
men, aber es müßten mehrere Hunderte gewesen sein, damit
die Angabe des Mentor zutreffen könnte. An eine so große
Versammlung kann ich aber nicht glauben. Auch durfte der
Dichter 108 Freier niemals „wenige“ nennen.
Solche Bedenken haben mir schon vor Jahren die Frage
nahegelegt, ob die Freierzahl nicht unrichtig sei und abge-
ändert werden müsse. Aber darf das geschehen? Ich trage
kein Bedenken, es zu tun. In den Erzählungen fast aller Völ-
ker kommen solche Übertreibungen der Zahlen vor. Für die
Jlias geben die meisten Forscher eine bedeutende Vermeh-
rung der Kämpferzahl zu, und auch ich selbst habe (Troja
und Jlion, 1902, 605) eine solche Übertreibung durch spätere
Rhapsoden angenommen. In der Odyssee habe ich oben
(S. 56) eine ähnliche Vermehrung der Tageszahl für die
Fahrt des Odysseus von Ogygia nach Scheria nachgewiesen.
Die Möglichkeit, daß auch die Zahl der Freier in der Odyssee
von einem späteren Sänger vergrößert worden ist, kann man
nicht leugnen. Vielleicht sollte der Mut und die Tapferkeit
des Helden ins Fabelhafte gesteigert werden und zu dem
Zwecke wurde die Zahl der Freier so sehr vermehrt.
Aber mit diesem negativen Ergebnis der Kritik, mit dem
Nachweis, daß die jetzige Freierzahl nicht richtig sein kann,
brauchen wir uns nicht zu begnügen; wir können vielmehr,
wie ich glaube, die ursprüngliche Zahl noch mit so großer
Wahrscheinlichkeit feststellen, daß wir es wagen dürfen, sie
in unser ursprüngliches Gedicht einzufügen. Nachdem wir
gesehen haben, daß das jetzige Epos trotz vieler Verände-
I, 13
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4. Bei 108 Freiern hätte endlich auch Mentor unmöglich in
der Volksversammlung des 2. Tages (2,240—41) von „weni-
gen“ (παύρονς) Freiern und vielen (πολλούς) ithakesischen
Bürgern sprechen können. Wir wissen zwar nicht, wie viele
Bürger der Stadt Jthaka an der Volksversammlung teilnah-
men, aber es müßten mehrere Hunderte gewesen sein, damit
die Angabe des Mentor zutreffen könnte. An eine so große
Versammlung kann ich aber nicht glauben. Auch durfte der
Dichter 108 Freier niemals „wenige“ nennen.
Solche Bedenken haben mir schon vor Jahren die Frage
nahegelegt, ob die Freierzahl nicht unrichtig sei und abge-
ändert werden müsse. Aber darf das geschehen? Ich trage
kein Bedenken, es zu tun. In den Erzählungen fast aller Völ-
ker kommen solche Übertreibungen der Zahlen vor. Für die
Jlias geben die meisten Forscher eine bedeutende Vermeh-
rung der Kämpferzahl zu, und auch ich selbst habe (Troja
und Jlion, 1902, 605) eine solche Übertreibung durch spätere
Rhapsoden angenommen. In der Odyssee habe ich oben
(S. 56) eine ähnliche Vermehrung der Tageszahl für die
Fahrt des Odysseus von Ogygia nach Scheria nachgewiesen.
Die Möglichkeit, daß auch die Zahl der Freier in der Odyssee
von einem späteren Sänger vergrößert worden ist, kann man
nicht leugnen. Vielleicht sollte der Mut und die Tapferkeit
des Helden ins Fabelhafte gesteigert werden und zu dem
Zwecke wurde die Zahl der Freier so sehr vermehrt.
Aber mit diesem negativen Ergebnis der Kritik, mit dem
Nachweis, daß die jetzige Freierzahl nicht richtig sein kann,
brauchen wir uns nicht zu begnügen; wir können vielmehr,
wie ich glaube, die ursprüngliche Zahl noch mit so großer
Wahrscheinlichkeit feststellen, daß wir es wagen dürfen, sie
in unser ursprüngliches Gedicht einzufügen. Nachdem wir
gesehen haben, daß das jetzige Epos trotz vieler Verände-
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