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Dohme, Robert
Kunst und Künstler des Mittelalters und der Neuzeit: Biographien u. Charakteristiken (2,1): Kunst und Künstler Italiens bis um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts — Leipzig, 1878

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Dobbert, Eduard: Niccolo Pisano: gest. um 1280
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https://doi.org/10.11588/diglit.36088#0038
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NICCOLO PISANO.

Nichts defto weniger wird man eine bedeutende Begabung des Künftlers für die
Darftehung dramatifch bewegter Situationen anerkennen müffen.
Auch bei dem folgenden Bilde, der ))KreuzigungK, bewährt hch diefes Talent,
und zwar tritt dasfelbe, im Vergleich mit dem entfprechenden Relief in Pifa, in
gefteigertem Maafse auf; das Tempo der Handlung ift gewiffermaafsen ein rafcheres
und der Ton ein kräftigerer. In dem Antlitze des eben verfchiedenen Erlöfers
lind die Spuren der ausgeftandenen Qualen deutlicher zu lefen; der Schmerz der
Angehörigen ifl leidenfchaftlicher, die Furcht auf Seite der Feinde heftiger. War
ichon bei der )hWeuzigungK in Pifa der Einhufs der Antike ein geringer gewefen,
fo ift hier von einer Milderung, refp. Abfchwächung des Affectes durch Anleh-
nung an antike Mufter, freilich aber auch von Formenfchönheit im Sinne der
Antike bereits nichts mehr zu fpüren. In den beiden bitterlich weinenden Wei-
bern, fo wie in der Frau, welche die in tiefe Ohnmacht gefunkene Maria in ihren
Armen aufgefangen hat, ift der Schmerz überzeugend charakterihrt, zu gleicher
Zeit aber find es auch abfchreckend häfsliche Geftalten; der in feiner Seelenangh
hch davon fchleichende Mann (in der Ecke rechts) aber wirkt durch die ver-
fehlten Proportionen und das Uebertriebene der Bewegung nahezu komifch.
Was das njüngfte Gericht betrifft, lo leidet die Seite der Seligen an einer
groisen Einförmigkeit der Compohtion. In fünf parallelen Reihen hinter oder rich-
tiger über einander hebt man zuunterft die aus ihren Gräbern zum ewigen Leben
Auferftehenden und weiter oben zahlreiche Selige verfchiedenen Alters und Standes,
zum Theil in der Zeittracht, mit Bifchofsmützen, Kronen, Mönchskutten u. f. w.;
die meiften diefer Figuren blicken hebend zu Chriftus empor, einige haben
brennende Lampen in den Händen. Auf der Seite der Verdammten find Stel-
lungen und Ausdruck mannigfaltiger. Hier hebt man einen Mönch den ftrengen
Engel des Gerichtes, der ihn zur Hölle ftöfst, vergeblich um Erbarmen anhehen;
ein gekrönter Sünder hält jämmerlich weinend die gefalteten Hände vor den
Mund; eine Unglückliche hat fchaudernd ihr Antlitz mit den Händen bedeckt;
voller Herzensangft blickt ein fbeben dem Grabe Enthiegener zum unerbittlichen
Richter empor. Gefchäftige Teufel nehmen die von den Engeln Verftofsenen in
Empfang und zerren he in die Hölle. Beelzebub, ein gierig und fchadenfroh
blickendes, ähnlich wie in Pifa charakterihrtes Ungethüm, in deffen garhigem
Maule man zwei mächtige Hauer hebt, ifl auch ichon in voller Thätigkeit, indem
er mit den Krallen feine unglücklichen Opfer zertritt, zerdrückt oder in einen
widerwärtigen Thierrachen ftölst. Der Weltenrichter ift lebendiger dargeftellt als
in Pifa; man fleht es ihm an, dafs er das Urtheil fpricht, fein Mund ift halb
geöffnet, die Augen blicken lebhaft; auch fteht diefer Kopf dem fpecihfchen
Chriftustypus viel näher, als der mehr antikihrende in Pifa.
Zum Schlufs unferer vergleichenden Betrachtung der beiden Kanzeln fei noch
auf einen mehr äufserlichen Unterfchied hingewiefen. In Pifa find die Gewänder
einfach behandelt und ftehen, wie wir iahen, der Antike nahe, in Siena find he
immer wieder durch reiche Stickereien und Franzen verziert, ein Schmuck, der
an der älteren Kanzel nur ganz ausnahmsweife vorkommt. Auch begegnen wir
in Siena hier und da, namentlich im Bjüngften GerichtK, wie Ichon oben an-
gedeutet wurde, der Zeittracht. Die Engel mit den Pafhonswerkzeugen erlcheinen
in priefterlicher Kleidung. Es dürfte nicht zufällig fein, dafs diefer reiche Schmuck
der Gewänder gerade an einem in Siena gefertigten Sculpturwerke uns entgegen
 
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