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Dresdner, Albert; Gaede, Richard
Neues Leben im altsprachlichen Unterricht: 3 Preisarbeiten — Berlin, 1918

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https://doi.org/10.11588/diglit.43344#0036
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Albert Dresdner:

Das Erlebnis kann sich im kleinen und kleinsten Um-
kreise vollziehen. Eine wohlverstandene grammatische Kon-
struktion, ein gründlich erfaßter mathematischer Satz können
dem Schüler in ihrer Weise zum Erlebnisse werden, indem
sie ihm mit einem Schlage Gebiete und Zusammenhänge
erhellen, nahe bringen, zum geistigen Eigentume machen,
die ihm bisher dunkel und fremd geblieben waren. Aber
wie wir es hier ins Auge fassen, meinen wir doch vornehm-
lich jenes Erlebnis größeren Maßstabes, mit dem zugleich
eine intensive Erhöhung des Lebensgefühles im ganzen ver-
bunden ist. Wenn jene ungeheure Masse, „das Leben“, die
vor dem erwartungsvoll der Zukunft zugewandten Blicke
des jungen Menschen chaotisch, überwältigend, unfaßbar,
lockend und erschreckend zugleich liegt, sich ihm in diesem
oder jenem Teile gliedert, ihn ihre innere Ordnung und ihr
Gesetz ahnen läßt, wenn sie seinem Verständnisse Hand-
haben bietet, seiner Entwicklung Wege zeigt: dann emp-
findet er jenes tiefe Glücksgefühl, das sich immer einstellt,
wenn wir uns neuer großer Möglichkeiten unseres Daseins
bewußt werden, nach denen wir nur zu greifen brauchen.
Zuletzt muß jedes Erlebnis seine Fruchtbarkeit an der
Gegenwart, am unmittelbar Gegebenen bewähren. Alle
Bildung, die dem Schüler vermittelt wird, verfolgt ja am
Ende den Zweck, ihn instand zu setzen, sich unter den
Menschen und Dingen seiner Zeit zurechtzufinden und unter
ihnen seinen Mann zu stehen. Allein wie die eigene Sprache
an einer fremden am innerlichsten erfaßt und verstanden
wird, so wird die Gegenwart am umfassendsten, tiefsten
und wirksamsten an der Vergangenheit erlebt. Das Er-
lebnis des Altertums muß daher dem Erlebnisse der Gegen-
wart dienen, zu ihm führen. Hierfür besitzt das Altertum
mehrere unschätzbare Vorteile, die ihm in dieser Beziehung
einen Vorrang vor allen anderen Kulturen und Literaturen
sichern. Da es als ein abgeschlossener Organismus vor
unserem Auge steht, dessen Bild nicht mehr durch die
Strömungen und Gegenströmungen einer kämpfenden Gegen-
 
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