Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Dresdner, Albert
Schwedische und norwegische Kunst seit der Renaissance — Jedermanns Bücherei: Breslau: Ferdinand Hirt, 1924

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.67059#0094
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
90

12. Munch

Das ist Munchs Inferno. Rastlos, gleich einem Gefangenen in
seiner Zelle, durchwandert er es von einem Ende zum anderen.
Immer wieder behandelt er dieselben Motive, jetzt in Gemälden,
jetzt in graphischen Arbeiten; in der Graphik hat er in der Regel
die schlüssigsten und stärksten Formulierungen gefunden. Es
dauert lange, bis sich ihm ein Weg aus dieser Fluchwelt öffnet.
Strindberg fand — „Nach Damaskus“ — sein Heil im Kloster,
Munch in der Rückkehr zur Natur.
Diese Rückkehr wird bezeichnet durch den Abschluß der Wander-
jahre und die Ansiedlung in der Heimat (1909). Neu und groß
bietet sich ihm ihre Natur dar. Begierig trinkt er sie mit ausgehun-
gerten Sinnen, er wirft sich in ihre Arme. Die Natur hat sich als
die Stärkere erwiesen, Munch kapituliert vor ihr, nur bei ihr ist
Heil und Gesundheit. Langsam weichen die Schatten, langsam
treten die Grübeleien zurück, die Landschaft beginnt in seinem
Schaffen zu überwiegen. Er malt nicht eine freundlich ansprechende
Natur, die das Stimmungsleben des Menschen aufnähme und be-
stätigte — er malt eine herbe, unnahbare Natur, die sich selbst
genügt und erfüllt, die immer ist und immer wird. Ruhevoll ist
sie doch stets voll innerer Bewegung, und aus ihrem Schoße treiben
ihre geheimen Kräfte in Farbenwundern auf. Der Mensch geht in
der Natur auf, wird Natur in der Natur, Frühling im Frühling,
Winter im Winter. Junge Menschen mit lichten, blonden, nordisch-
kühlen Leibern baden in Sonne und See; sie sind unproblematisch,
ihr Sein erfüllt sich in dem Glücksgefühle zu leben und die Gesund-
heit ihrer Körper zu genießen. In dem Großwerke seiner Spätzeit,
den 1916 vollendeten Wandgemälden der neuen Aula der Universität
Christiania, zeigt sich Munchs neue Vorstellungswelt abgeschlossen,
geordnet und geklärt. Den Raum beherrscht die farbenglühend
über Norwegens alten Felsschollen aufgehende Sonne, die Mutter
allen Lebens, das Symbol der uralten Lichtreligion der Germanen.
In ihr und von ihr lebt ein Geschlecht von blühenden Jünglingen
und Mädchen, die nicht Vergangenheit und Zukunft, nicht Rätsel
und Schrecken kennen. Man sieht die Mädchen allein und die Jüng-
linge allein; so vereinigen sie sich, gemeinsam hüten sie das heilige
Feuer, und ein neues Geschlecht kündigt sich wieder an. Die „Ge-
 
Annotationen