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12. Munch

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stehen im Kampfe miteinander; nachtschwarze Finsternisse prallen
gegen grelle Helligkeiten; gleitende kriechende Schatten liegen wie
geduckte Unholde auf der Lauer. In dem Bildnisse von 1895 hat
Munch sich selbst in Dunkelheiten gestellt, die die Gestalt zu ver-
schlingen drohen, aber im Blicke wird geheime Angst von einem
straff gespannten Willen gebändigt, der die Dämonen zu packen
und zu bannen entschlossen ist. Die Linie wird zu funktioneller
Ausdrucksform entwickelt. „Der Tag darauf“ (zweite Fassung 1894)
zeigt auf dem Bette liegend ein junges Weib nach durchschwärmter
Nacht: den Bildgedanken trägt ein Gegenspiel von Hebungen und
Senkungen, aber tief sinkt die Wagschale der hinabziehenden
Kräfte. In den Raum wühlen sich mit unerbittlicher Gewalt lange
Straßen, Brücken, Gänge; hart stoßen sie an den Horizont; sie
enden, ohne einen Abschluß zu finden, in hoffnungsloser Endlosig-
keit. Die Raumteile begegnen sich in schrillen Dissonanzen, sie
vermählen sich nicht miteinander; jede Einzelerscheinung sondert
sich fremd von den anderen ab. Der Blick des Beschauers wird in
auseinanderstrebende Richtungen gerissen, in allen Teilen der
Fläche wird er zu peinvoll stoßender, arhythmischer Bewegung ge-
zwungen, nirgends findet er Halt, Sammlung, Frieden. Es gibt
keinen Vordergrund, der durch zarte Einzelheiten sich vertraulich
machte, noch eine Ferne, die die Bewegung auffinge und ruhevoll
sammelte.
Die Natur ist abweisend, feindlich. Sie saugt dem Menschen den
Willen aus, sie zerrt an ihm, peinigt ihn, schlägt ihn mit verzweif-
lungsvoller Angst. Auf der Brücke stehen drei Mädchen; des Eigen-
lebens beraubt, drängen sie sich scheu zusammen; die Sommernacht
überwältigt sie, sie sinken in sie hin. Ein Mann und ein Weib am
Strande, in dichter Nähe und doch einander fern: die große Meeres-
weite, „alles, was lockt und zieht“, drängt sie von sich fort. Das
Liniengefüge von Wolken wird zu Netzen, in denen sich Menschen-
köpfe fangen. Der Raum selbst reißt durch seine mitleidlosen
Arhythmien die Menschen weit auseinander; sie sind Spielbälle bös-
artiger Mächte. Ihre Augen blicken starr und leer wie die ge-
ängstigter Tiere. In einem tierartigen Laute macht sich die Pein ein-
mal im „Geschrei“ Luft, aber sonst leben sie in qualvoller Stummheit.
 
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