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parallel gehen4, ja wie der gestalthafte Niederschlag seiner Spätpoesie erscheinen, den höchsten
Rang ein, und zwar nicht nur hinsichtlich ihrer einzigartigen Prägung des Golgatha-Themas
im italienischen Cinquecento, sondern dank ihrer zeichnerischen Fassung. Indem auf jede vir-
tuose Zurschaustellung der Gliederpracht und auf jeden Versuch der Glättung verzichtet wird,
jene Merkmale, die in den Geschenkblättern vom Anfang der dreißiger Jahre und noch im Co-
lonna-Cruzifix hervorgetreten waren, hingegen das Unvollendete, Transparente und über den
Linienduktus die innere Bewegtheit der Gestalten in Erscheinung treten, um so eindringlicher
offenbart sich der geistige Ausdruck dieser Gebilde. Allein die Zeichnung und auch sie nur in
diesem spezifisch spätzeitlichen Stil vermochte als Medium dieser Visionen zu dienen; jede Über-
setzung ins Gemälde oder in die Skulptur5 hätte eine Schwächung des Gehalts zur Folge gehabt.
- Wir besitzen von Michelangelo eine stattliche Anzahl von Architekturzeichnungen, die sein
bauliches Schaffen von der frühesten Betätigung um 1505 bis in sein hohes Alter begleiten.
Diese Blätter aus einem Werkkatalog des Meisters auszuschalten oder, wie Berenson es unter-
nommen, nur soweit in Betracht zu ziehen als sie zu bildnerischen Schöpfungen Michelangelos
in Beziehung stehen, würde eine wesentliche Komponente der zeichnerischen Produktion des
Künstlers übersehen, ja mehr, ihre Übergehung käme einer Einschränkung des gestalterischen
Denkens des Meisters gleich. Auch unter dem Aspekt des dokumentarischen und stilistischen
Wertes behaupten die architektonischen Entwürfe und Skizzen eine entscheidende Rolle, da
die Mehrzahl von ihnen zu den ausgeführten Werken in einer mehr oder weniger direkten
Beziehung steht und uns die Etappen der betreffenden Denkmalsgruppe erschließt wie die
Studien für die Capelia Medici, die Laurenziana, für San Pietro und die Porta Pia erweisen,
andere wieder in die durch die Mißgunst der Umstände verhinderten Projekte Einblick ge-
währen, wie die Fassaden- und Chorwandgestaltung von San Lorenzo und die ursprüngliche
Anlage von San Giovanni dei Fiorentini in Rom. Ein vollkommenes Neuland, nicht allein
tektonischen Gestaltens, sondern ebenso hinsichtlich der zeichnerischen Prozedur, erschließen
die Festungspläne für Florenz, deren Entstehung zwischen 1528-1529 verbürgt ist und die
durchweg mit Michelangelos handschriftlichen Angaben versehen sind. Schriftvermerke des
Meisters, die in der Regel auf den betreffenden Concetto Bezug nehmen, finden sich aber
auch auf einer nicht kleinen Zahl der übrigen Architekturzeichnungen und dieses Charakte-
ristikum bezeugt ihre Originalität, ein Moment, das sie weniger den Schwankungen der Zu-
oder Aberkennung aussetzt als die figürlichen Gebilde. Sachlich umfaßt dieser Zeichnungs-
komplex fast alles, was wir im Bereich der zeitgenössischen Baumeister aus Michelangelos
Umgebung antreffen, d. h. Grundrisse und Aufrisse für kirchliche und profane Denkmäler,
für Langhaus- und Zentralräume, für Freigrabmale und Wandgräber, Fassaden und Innen-
raumwände, Gewölbe und Flachdecken, Treppenentwürfe, Portale, Fenster und Nischen, Tür-
stürze und Gesimse, Basen, Säulen, Pilaster und Kapitelle, Ziborien, Brunnen und Möbel. Es

4 Vgl. Frey Dichtungen n. CXLVII, CLII, CLVI, CLX, doch gelegentlich schon zu Beginn der dreißiger Jahre, wie XLVIII
ersehen läßt. Wenn Berenson (Textband p. 233) hinsich dich der Kreuzigungsblätter und ihrer vielfachen Pentimenti die
Frage stellt: »What troubled the artist?« und darauf die Antwort folgen läßt: »I venture to believe that it was not the
religious interpretation of the motive«, so scheint uns diese Erklärung die Gestaltungsabsicht des Meisters zu verkennen;
denn trifft es auch zu, daß die Formbildung des Christusaktes von Blatt zu Blatt variiert wird und somit auch dem alten
Michelangelo die Lösung der Aufgabe mitnichten gleichgültig war, das Grundmotiv der Themenwahl ist unzweifelhaft
sein Bekenntnis zur »theologia crucis« gewesen.
5 Die für Realisierung in Stein bestimmte Werkzeichnung einer Kreuzigungsgruppe des Archivio B. (Kat.n. 21) gehört
einer viel früheren Entwicklungsphase an.

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