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IDEALISMUS UND NATURALISMUS IN DER GOTIK

richtungen der gotischen Kunst schien auch ihre Unlös-
barkeit enthalten zu sein. War doch die neue Naturauffassung
durch die mittelalterliche Idealität bedingt, und das Band wäre auch
kaum so bald gelockert worden — auf anderen Gebieten des Kultur-
lebens können wir seine Einwirkung weit über das Mittelalter hinaus
beobachten —, wenn sich zu den früher dargelegten Ursachen nicht auch
noch ein neuer Begriff des Kunstwerkes gesellt hätte,der zwar
zunächst nicht ganz jenseits aller mittelalterlichen Gebundenheiten
stand, aber doch ihnen gegenüber etwas Neues und Selbständiges be-
deutet.
Er ist im Süden entstanden.
Vielleicht wird uns deutlicher, worum es sich handelte, wenn wir die
Parallel ent wicklung in der Literatur zum Vergleiche heranziehen. Wie
die Kunst, so war auch die Literatur im Mittelalter durchaus an eine
feste transzendente Ordnung, an das metaphysische Reich übersinn-
licher Substanzen gebunden1. Es bestanden in der Poesie, in der Ge-
schichte keine Beziehungen zur sinnlichen Welt, zum menschlichen Le-
ben und Erleben, die nicht irgendwie in dem übernatürlich-spiritualisti-
schen Idealismus der mittelalterlich-christlichen Weltanschauung ihren
Ursprung und ihre Grenze hatten, jenseitsideren es keine poetische oder
historische Bedeutsamkeit gegeben hat. Nicht vom sinnlichen Leben
und dem in ihm begründeten Empfinden, nicht von den Kausalverbin-
dungen des materiellen Geschehens schreitet der Geist zu einem höhe-
ren poetischen und geschichtlichen Bewußtsein, sondern umgekehrt: der
Glaube an die Allmacht und den Alleinwert übersinnlicher geistiger Ge-
walten war der Ausgangspunkt des poetischen Schaffens und der histo-
rischen Betrachtung, der neuen dichterischen, geschichtlichen Entdek-
kung der Welt und der Geschichte der Menschheit. Überall, wo man
im Mittelalter über das annalistische Rohmaterial in seiner lokalen,
zeitlichen und sozialen Begrenzung hinausging2, suchte man in den Le-
genden, in den Epen und in universellen historischen Darstellungen die
Ereignisse in ein System übermaterieller Gesichtspunkte einzuordnen.
In einem anderen Sinne noch, als es von Bedier dargelegt wurde, sind
die chansons de geste aus dem religiösen Spiritualismus des Mittelalters
1 Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung, 3. Aufl., Leipzig 1910, S. 4.
2 Die auf jede pragmatische Verbindung verzichtende annalistische Reihung der Tatsachen
ist wohl das gegebene Korrelat zur legendären und übernatürlichen Erklärung der Tatsachen,
ähnlich wie die rohe Blockform zum spirituellen System der figuralen und architektonischen
Komposition.

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