IDEALISMUS UND NATURALISMUS IN DER GOTIK
dingte Säkularisierung der geistigen Gewalten vollzogen, doch nicht im
Gegensätze zu der religiösen Kultur des Mittelalters, sondern auf deren
Grundlage und in ihrem Rahmen, und die dabei entscheidenden Ge-
sichtspunkte, wie die neue Bedeutung der geistigen Persönlichkeit und
die neue Auffassung der Natur, beruhten auf Entwicklungsreihen, die
von jener Umbildung der Menschheit, die im Christentum ihren Aus-
druck fand, nicht getrennt werden können.
Es ist klar, daß mit einer solchen Wandlung eine weitgehende Über-
windung der überlieferten bildlichen Vorstellungen verbunden sein
mußte. Während in der vorangehenden Periode die Darstellungsstoffe
auf bestimmte alte Zyklen beschränkt waren, die erweitert oder zu-
sammengezogen und verschiedenartig neu gefaßt wurden, doch sich im-
mer in einem höchst beschränkten Kreise bildlicher Vorstellungen be-
wegten, der sicher ärmer war als seine altchristlichen Voraussetzungen,
verschwand seit der Mitte des zwölften Jahrhunderts diese Begrenzung,
und in scheinbar schrankenloser Fülle strömte eine neue Phantasiewelt in
die Kunst ein: die alten Darstellungsstoffe wurden nicht nur neu redigiert,
sondern auch neu erfunden, und zahlreiche neue epische und lyrische,
religiöse und profane Themen schlossen sich an. Die stoffliche Bereiche-
rung der Kunst war nicht minder groß als jene, die sich im neunzehnten
Jahrhundert der Kunst der Renaissance und Barockzeit gegenüber voll-
zogen hat, nur mit dem Unterschiede, daß die Erweiterung des Dar-
stellbaren sich weniger auf das Gegenständliche der Naturbeobachtung
(obwohl auch darin die größte Umwälzung stattgefunden hat) als auf
das literarisch Erzählende bezogen hat. Die ganze mittelalterliche
Kunst hatte, wie oft mit Recht betont wurde, einen stark literarischen
und illustrativen Charakter1, und so war es nur natürlich, daß in dem
Maße, als sich der literarische Interessenkreis erweiterte und veränderte,
als die kirchliche und profane Literatur von einem neuen Aufblühen
des Phantasielebens durchsetzt wurde, dies auch in der darstellenden
1 Die Verse des Prudentius: „Non est inanis aut anilis fabula — Historiam pictura refert,
quae tradita libris — veram vetusti temporis monst.rat fidem“ (Peristephanon Hvmn. IX.
Migne P. L. 60, 434) — wurden im Mittelalter oft paraphrasiert, wobei im frühen Mittel-
alter naiv der praktische Zweck betont wurde. „Die Bilder im Gotteshause“, schrieb Gregor
der Große an Bischof Serenus, „sollen für einfache Menschen das sein, was für Gebildete die
Bücher“. (L. 9, epist. 208. Mon. Germ. Epist. II, S. 195.) Ähnlich auch die Synode von Arras
im Jahre 1025. (Didron, Iconographie c.hnHienne S. 6.) Seit dem zwölften Jahrhundert traten
an die Stelle der pädagogischen Begründung in der Regel Hinweise auf den ideellen Wert der
Kunst. Zu vgl. Thomas von Aquino S. Th. I, qu. 75, a. 5 c.: S. Th II, sec. qu. 167, a. 2 c. und
Bonaventuras Schrift, De reductione artium ad theologiam.
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dingte Säkularisierung der geistigen Gewalten vollzogen, doch nicht im
Gegensätze zu der religiösen Kultur des Mittelalters, sondern auf deren
Grundlage und in ihrem Rahmen, und die dabei entscheidenden Ge-
sichtspunkte, wie die neue Bedeutung der geistigen Persönlichkeit und
die neue Auffassung der Natur, beruhten auf Entwicklungsreihen, die
von jener Umbildung der Menschheit, die im Christentum ihren Aus-
druck fand, nicht getrennt werden können.
Es ist klar, daß mit einer solchen Wandlung eine weitgehende Über-
windung der überlieferten bildlichen Vorstellungen verbunden sein
mußte. Während in der vorangehenden Periode die Darstellungsstoffe
auf bestimmte alte Zyklen beschränkt waren, die erweitert oder zu-
sammengezogen und verschiedenartig neu gefaßt wurden, doch sich im-
mer in einem höchst beschränkten Kreise bildlicher Vorstellungen be-
wegten, der sicher ärmer war als seine altchristlichen Voraussetzungen,
verschwand seit der Mitte des zwölften Jahrhunderts diese Begrenzung,
und in scheinbar schrankenloser Fülle strömte eine neue Phantasiewelt in
die Kunst ein: die alten Darstellungsstoffe wurden nicht nur neu redigiert,
sondern auch neu erfunden, und zahlreiche neue epische und lyrische,
religiöse und profane Themen schlossen sich an. Die stoffliche Bereiche-
rung der Kunst war nicht minder groß als jene, die sich im neunzehnten
Jahrhundert der Kunst der Renaissance und Barockzeit gegenüber voll-
zogen hat, nur mit dem Unterschiede, daß die Erweiterung des Dar-
stellbaren sich weniger auf das Gegenständliche der Naturbeobachtung
(obwohl auch darin die größte Umwälzung stattgefunden hat) als auf
das literarisch Erzählende bezogen hat. Die ganze mittelalterliche
Kunst hatte, wie oft mit Recht betont wurde, einen stark literarischen
und illustrativen Charakter1, und so war es nur natürlich, daß in dem
Maße, als sich der literarische Interessenkreis erweiterte und veränderte,
als die kirchliche und profane Literatur von einem neuen Aufblühen
des Phantasielebens durchsetzt wurde, dies auch in der darstellenden
1 Die Verse des Prudentius: „Non est inanis aut anilis fabula — Historiam pictura refert,
quae tradita libris — veram vetusti temporis monst.rat fidem“ (Peristephanon Hvmn. IX.
Migne P. L. 60, 434) — wurden im Mittelalter oft paraphrasiert, wobei im frühen Mittel-
alter naiv der praktische Zweck betont wurde. „Die Bilder im Gotteshause“, schrieb Gregor
der Große an Bischof Serenus, „sollen für einfache Menschen das sein, was für Gebildete die
Bücher“. (L. 9, epist. 208. Mon. Germ. Epist. II, S. 195.) Ähnlich auch die Synode von Arras
im Jahre 1025. (Didron, Iconographie c.hnHienne S. 6.) Seit dem zwölften Jahrhundert traten
an die Stelle der pädagogischen Begründung in der Regel Hinweise auf den ideellen Wert der
Kunst. Zu vgl. Thomas von Aquino S. Th. I, qu. 75, a. 5 c.: S. Th II, sec. qu. 167, a. 2 c. und
Bonaventuras Schrift, De reductione artium ad theologiam.
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