DIE ENTSTEHUNG DER BAROCKKUNST
von da an wachsende Beliebtheit solcher Szenen erklärlich. In dieser
Dramatisierung liegen zugleich zwei neue stilbildende Momente, die
für die Zukunft von großer Bedeutung waren: Erstens die stärkere
Trennung des Realistischen von dem Idealen. Das Realistische, als
Darstellung der Menschen und der physischen und psychischen Le-
benszustände in ihrer wirklichen Beschaffenheit ist im Verlauf der
Renaissance immer weiter zurückgetreten; nun beginnt es an Boden
zu gewinnen, und zwar nicht als allgemeine Weltanschauungsnorm, wie
im Norden, sondern als Mittel zur Steigerung des Idealen, als dessen
Kontrast und irdische Folie. Zweitens: Auch die entsprechenden idealen
Gestalten sind anderer Natur als in der vorangehenden Kunst. Es
handelt sich in ihnen nicht um körperliche Vollendung allein — sie
war eine selbstverständliche Voraussetzung —, sondern ebensosehr um
psychische Momente: die Menge ist von tierischen Leidenschaften er-
füllt, die Heiligen aber von einer von allem Irdischen losgelösten Gefühls-
stärke, die jetzt der eigentliche geistige Inhalt der Darstellung gewor-
den ist und den Beschauer vor allem ergreifen soll.
So war die Raffaelschule in vielfacher Beziehung das Vorspiel der
kommenden Ereignisse. Man könnte sagen: so wie seine Schüler hätte
sich wahrscheinlich Raffael selbst entwickelt, wenn er länger gelebt
hätte; und wenn man in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts (und
später immer wieder) Raffael als einen der Begründer der neuen Kunst
nannte, so hatte man nicht zuletzt jenen Raffael im Sinne, den es
nicht gab, der nur in seinen Schülern weiter lebte.
2. DER SPÄTSTIL MICHELANGELOS
Der zweite Ausgangspunkt des Manierismus war Michelangelo mit
seinen Schülern — nicht der Schöpfer der Sixtinischen Decke und der
Mediceischen Kapelle, sondern jener des Jüngsten Gerichts, der Male-
reien in der Cappella Paolina, der letzten Skulpturen und Zeichnungen.
Vom „Jüngsten Gericht“ (Tafel 59) haben wir bereits gesprochen.
Seine ungeheuere Bedeutung lag in erster Linie darin, daß in diesem
Kolossalgemälde der Kunst ganz neue Maßstäbe gegeben wurden:
Erstens. Die Antike erscheint darin als Quelle formaler Lösungen defi-
nitiv beseigt: was hätte sie nach diesem Werk der Kunst noch bieten
können ? Zweitens. Die Überwindung jeder zeitlichen und lokalen Be-
dingtheit. Hat Michelangelo schon früher in Einzelfiguren der Wirk-
lichkeit Menschentypen entgegengestellt, die einer anderen, gewalti-
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von da an wachsende Beliebtheit solcher Szenen erklärlich. In dieser
Dramatisierung liegen zugleich zwei neue stilbildende Momente, die
für die Zukunft von großer Bedeutung waren: Erstens die stärkere
Trennung des Realistischen von dem Idealen. Das Realistische, als
Darstellung der Menschen und der physischen und psychischen Le-
benszustände in ihrer wirklichen Beschaffenheit ist im Verlauf der
Renaissance immer weiter zurückgetreten; nun beginnt es an Boden
zu gewinnen, und zwar nicht als allgemeine Weltanschauungsnorm, wie
im Norden, sondern als Mittel zur Steigerung des Idealen, als dessen
Kontrast und irdische Folie. Zweitens: Auch die entsprechenden idealen
Gestalten sind anderer Natur als in der vorangehenden Kunst. Es
handelt sich in ihnen nicht um körperliche Vollendung allein — sie
war eine selbstverständliche Voraussetzung —, sondern ebensosehr um
psychische Momente: die Menge ist von tierischen Leidenschaften er-
füllt, die Heiligen aber von einer von allem Irdischen losgelösten Gefühls-
stärke, die jetzt der eigentliche geistige Inhalt der Darstellung gewor-
den ist und den Beschauer vor allem ergreifen soll.
So war die Raffaelschule in vielfacher Beziehung das Vorspiel der
kommenden Ereignisse. Man könnte sagen: so wie seine Schüler hätte
sich wahrscheinlich Raffael selbst entwickelt, wenn er länger gelebt
hätte; und wenn man in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts (und
später immer wieder) Raffael als einen der Begründer der neuen Kunst
nannte, so hatte man nicht zuletzt jenen Raffael im Sinne, den es
nicht gab, der nur in seinen Schülern weiter lebte.
2. DER SPÄTSTIL MICHELANGELOS
Der zweite Ausgangspunkt des Manierismus war Michelangelo mit
seinen Schülern — nicht der Schöpfer der Sixtinischen Decke und der
Mediceischen Kapelle, sondern jener des Jüngsten Gerichts, der Male-
reien in der Cappella Paolina, der letzten Skulpturen und Zeichnungen.
Vom „Jüngsten Gericht“ (Tafel 59) haben wir bereits gesprochen.
Seine ungeheuere Bedeutung lag in erster Linie darin, daß in diesem
Kolossalgemälde der Kunst ganz neue Maßstäbe gegeben wurden:
Erstens. Die Antike erscheint darin als Quelle formaler Lösungen defi-
nitiv beseigt: was hätte sie nach diesem Werk der Kunst noch bieten
können ? Zweitens. Die Überwindung jeder zeitlichen und lokalen Be-
dingtheit. Hat Michelangelo schon früher in Einzelfiguren der Wirk-
lichkeit Menschentypen entgegengestellt, die einer anderen, gewalti-
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