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DIE ENTSTEHUNG DER BAROCKKUNST

3. TINTORETTO
Die Künstler des michelangelesken Kreises waren nur Nebenzweige
auf dem gewaltigen Stamm der Kunst des Meisters. Kongenial mit
ihm war unter seinen Nachfolgern nur einer, der aus einer entgegen-
gesetzten künstlerischen Umgebung kam und dennoch in der großen
bildlichen Komposition sein eigentlicher Erbe wurde: Tintoretto.
Nicht von Anfang an; denn seine Frühwerke sind unter dem Einflüsse
Tizians entstanden und ganz venezianisch. Das ändert sich plötzlich
im Jahre 1548, in welchem Tintoretto sein „Markuswunder“ malte
(Tafel 69). Der ,,erste Journalist“, Pietro Aretino, hat über dieses Ge-
mälde eine nicht ganz freundliche Kritik verfaßt. Sie war der erste
Trompetenstoß zu einer sich lange hinziehenden literarischen Fehde,
die unter den Schlagworten Raffael, die Antike und Tizian einerseits,
Michelangelo und Tintoretto anderseits geführt wurde — eine Gegen-
überstellung, die zunächst unverständlich erscheint. — Das Gemälde
stellt die Befreiung eines Sklaven durch den heiligen Markus dar. Der
Sklave sollte als Christ das Martyrium erleiden, doch der Heilige er-
scheint und zerbricht die Marterwerkzeuge. Vieles erinnert noch an die
vorangehende venezianische Kunst, nicht nur die prächtigen Farben,
sondern auch die einzelnen Gestalten, die in sinnlich lebensvoller An-
schaulichkeit gemalt sind, als hätte der Künstler seine Modelle von
der Piazza geholt. Doch die Komposition war für Venedig unerhört
neu. Neu war schon die Bewegung, von der jede einzelne der Figuren
erfüllt ist: sie sind gedreht, biegen sich nach vor- oder rückwärts, um
einen möglichst starken Eindruck der Raumtiefe zu erwecken. Das-
selbe gilt für die ganze Komposition. Auch in dieser herrscht die größte
Bewegung: in der vorderen Bildebene, in jener Kurve, die von dem
schwebenden Heiligen über die Zuschauer zwischen den Säulen und
die am Sockel stehende Frau sich zu dem Kopfe des liegenden Sklaven
senkt und dann über die Gestalt des Henkers, der den zerbrochenen
Hammer zeigt, zu dem sich aufrichtenden Prätor hinaufsteigt; zugleich
aber aus der Tiefe heraus und in die Tiefe hinein: von dem fernen
Rand der Fassade bis zum Vordergrund in den übereinanderstehenden
Figuren, dann bogenartig in die Tiefe zurück. Diese Anordnung ist
ein direkter Gegensatz zu der ruhigen Entfaltung der Komposition in
der Fläche bei Tizian und erinnert an Michelangelos ,,Kreuzigung
Petri“ durch den aufsteigenden Bogen, der die Bühne ganz mit dem
kubischen Volumen der Gestalten ausfüllt und an den beiden Enden

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