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DIE ENTSTEHUNG DER BAROGKKUNST

Figuren, sondern auch die Bildkomposition in das Gebiet einer reinen
Idealität übertragen will.
Darin lag das Verhängnis seines Lebens, was besonders klar zutage
trat, als in dieser neuen Richtung der italienischen Kunst Michelangelo
die Führung übernommen hatte. Nicht daß Pontormo ihn unmittelbar
nachahmt, im Gegenteil, man hat den Eindruck, daß er selbständig
bleiben und aus eigener Kraft mit dem großen Meister wetteifern will.
So entstehen Werke, wie die ,,Grabtragung“ in Sta. Felicitä in Florenz
(Tafel 90) oder wie die Entwürfe für S. Lorenzo, in denen er den dar-
gestellten Gegenstand ganz in die Sprache abstrakt-idealistischer
kompositioneller Gebilde, Formen und Linien übertragen hat. In der
,,Grabtragung“ versucht er, ähnlich wie Rosso in seiner ,,Pieta“, nur
lyrisch aufgelöst, in einer vielfigurigen geschlossenen Gruppe mög-
lichste Fülle ausdrucksvoller Bewegungen zu geben, denen ebenso
zahlreiche Gefühlsakzente entsprechen. Da ist immerhin noch ein Rest
der alten Objektivisierung. In den Entwürfen für die Ausmalung des
Chors von S. Lorenzo (Tafel 91) verschwindet auch dieser. Da fehlt
jede real-räumliche, jede stoffliche, jede farbige Wirkung, wie jede
Betonung von Gefühlswerten. Nackte Figuren bedecken ohne jede
Andeutung der räumlichen Tiefe die Wände; sie selbst wirken wenig
körperlich, die Modellierung ist zwar meisterhaft, aber nur wenig her-
vorgehoben, das Wichtigste sind die Umrisse und die lineare Kom-
position, auf die die Darstellung im wesentlichen reduziert ist. Als
man die Fresken Pontormos, der immer mehr ein einsamer Grübler
und Experimentator geworden ist, enthüllte, war die Enttäuschung
in Florenz groß; sie wurden im XVIII. Jahrhundert übertüncht. Und
doch: betrachtet man die Entwürfe heute, so kommt man zur Über-
zeugung, daß dieses scheinbar verpfuschte Leben für die allgemeine
Entwicklung nicht wertlos war. Nicht nur weil derartige Extreme not-
wendig sind, wo es sich darum handelt eine verblühte Kunst ganz zu
überwinden — auch positive Züge kommen in Betracht. An diesen
Zeichnungen kann jeder, der für derartiges Blick und Gefühl hat,
sehen, wie unendlich viel sie an Ausdruckswert gewonnen haben. Wenn
wir dieser Spur nachgehen und andere Zeichnungen des Meisters be-
trachten, von denen sich eine sehr große Zahl erhalten hat, so über-
zeugen wir uns leicht, daß Pontormo zu den interessantesten Zeichnern
aller Zeiten zählt. Auffallend — weil es dem Anaturalismus der Zeit
zu widersprechen scheint — ist, daß er sehr viel nach der Natur ge-

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