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DIE HOCHRENAISSANCE

Auge des Historikers gesehen und in ihrer zeitlichen und geistigen
Besonderheit erfaßt. So gewinnt die Darstellung den Charakter des
geschichtlich Bedeutsamen, welches mit dem künstlerisch Bedeut-
samen zu einem neuen Typus des Geschichtsbildes verbunden wird.
Der Unterschied der Auffassung Michelangelos gegenüber ist offen-
kundig, doch hat diese Historienmalerei nicht minder lange weiter-
gewirkt.
Das vierte Bild in der Stanza dell’Eliodoro, die „Begegnung Leos I.
mit Attila“ ist im wesentlichen von Schülerhand, was auch für die
Fresken des nächsten Zimmers, der Stanza dell’ Incendio gilt, in denen
uns nur einzelne Figuren Raffaels Meisterschaft vor Augen führen, wie
zum Beispiel die berühmte Wasserträgerin im „Borgobrand“. Es emp-
fiehlt sich allerdings statt der ausgeführten Figur die dazu gehörige
Zeichnung zu betrachten (Tafel 20). Sie zeigt ein Motiv des Labilen,
wie zuweilen Figuren Michelangelos, doch ohne jede Unruhe: die star-
ken Arme tragen spielend die wankende Last. Der Kontrapost ist nicht
auffallend betont; es ist eine junonische Gestalt, doch nicht über-
menschlich, massig und doch wiederum leicht in ihrer kraftvollen
Jugendlichkeit. — Außer Leonardo gab es kaum einen Künstler in
Italien um die Wende des XV. und XVI. Jahrhunderts, der so viel
gezeichnet hätte wie Raffael. Während Michelangelo in seiner reifen
Zeit nur ausnahmsweise ein Modell benützte, studierte Raffael stets
nach der Natur, indem er zuerst die Stellungen nach der Puppe, dann
den nackten Körper nach dem Modell und die Gewänder ebenfalls
nach dem Modell zeichnete. Der definitive Karton war dann die Frucht
dieser vorbereitenden Arbeit, ohne daß er sich mit irgendeinem ihrer
Stadien gedeckt hätte. Der Karton erscheint im Gegenteil wie eine
freie Transkription des Beobachteten und Gelernten, alles auf das-
jenige einschränkend, was zum Verständnis der Formen, ihrer Arti-
kulation und ihrer Rundung und zugleich zur Verdeutlichung der dem
Künstler vorschwebenden Idealgestalt notwendig ist. So verhält sich
die definitive Zeichnung zu den Naturvorbildern wie eine sie zusam-
menfassende Neuschöpfung, und jede Form und jede Linie wirkt wie
eine Offenbarung.
In dieser paradigmatischen Verarbeitung der formalen Momente liegt
in erster Linie die Bedeutung der Kartons für die Teppiche der Six-
tinischen Kapelle. Den Auftrag, Vorzeichnungen für zehn Wandbe-
hänge mit Darstellungen aus der Apostelgeschichte zu verfertigen, er-

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